Und die Geschichte nahm ihren Lauf
„Was geht dort vorn am Futterplatz meiner Krähen und Raben eigenartiges vor sich?“ fragte sich Rovena beunruhigt. Ihre Lieblinge wirkten heute seltsam verstört. Leise und unauffällig versteckte sie sich neugierig zwischen den Bäumen bei der Lichtung.
Hierher kamen neuerdings immer ein paar zusätzliche Krähen, wenn sie auf Futtersuche waren. Und seit sie dies wusste, legte sie immer ein paar besondere Leckerbissen für ihre Lieblinge aus, wie sie sie heimlich nannte.
Aber heute hörte es sich an, als wären sie unzufrieden und würden um etwas streiten.
Kaum dass die einsame Frau sah, weshalb sich ihre Lieblinge so benahmen, erschrak sie zutiefst. Inmitten ihres Futters kniete ein junger Mann und pickte sich begierig die besten Stücke heraus. Nebenbei verscheuchte er immer wieder die Vogelschar, die um ihre leckere Mahlzeit fürchtete.
Die Frau, deren Alter nicht zu deuten war, wurde jetzt sehr wütend. Sie mochte die Menschen in ihrer egoistischen Art nicht und hasste ihren Eigennutz. Es machte sie ärgerlich, wenn sie sah mit welcher Profitgier sie alles Greifbare an sich rafften. Selbst vor der Natur machten sie nicht halt. Und dieser Jüngling schien ihnen in rein gar nichts nachzustehen. Zornig stürmte Rovena auf die Lichtung um den jungen Mann zur Rede zu stellen.
Für Florian hatte der Tag wie jeder andere begonnen. Bis zu dem Moment als der 20jährige mehr durch Zufall an diesem Nachmittag bei der Waldlichtung vorbei gekommen war.
Auf dieser Lichtung hielt sich ein Schwarm Krähen auf, und er liebte diese Vögel über alles. Sie waren sehr intelligent und lernfähig, und sie hatten etwas mystisches an sich. In verschiedenen Sagen und Legenden tauchten sie immer wieder in Verbindung mit Göttern auf.
Obwohl er wusste, dass es für Menschen niemals möglich war eine Krähe zu werden, war es doch sein allergrößter Wunsch. Aber dafür, dass es nicht möglich sein sollte, wollte er sich wenigstens mit ihnen umgeben und ihnen Nahe sein.
Während diesen Überlegungen lockte ihn ein betörender Essensduft unweigerlich auf die Lichtung zu den Krähen. Sein Herz hüpfte dabei vor Freude. Es schien, als würde ein Teil seiner Träume endlich wahr werden. Zumindest war er seinen Lieblingsvögeln in diesem Moment so nah wie noch nie.
Und das Futter, welches er dort roch, war so verführerisch, da konnte er unmöglich widerstehen. Gierig und scheinbar ausgehungert machte er sich über die Leckerbissen der Krähen her. Dass die Krähen dabei gar nicht begeistert waren, und dies auch lauthals kund taten, bemerkte er in seiner Euphorie nicht einmal. Er pickte einen Leckerbissen nach dem anderen vom Waldboden auf.
Erst in dem Augenblick als eine Frau völlig aufgebracht aus dem Unterholz auf ihn zu stürmte, erkannte er, was er da gerade unglaubliches angerichtet hatte.
Beschämt stand Florian schnell auf und bedauerte aber sofort seine allzu schnelle Bewegung. Die Krähen waren alle erschrocken aufgeflogen und setzten sich in sicherer Entfernung abwartend in die Bäume. Ein wenig trotzig reckte der junge Mann sein Kinn nach vorn und sah die Frau in ihrem zerschlissenen Rock herausfordernd an.
„Was machst Du da?! Hau ab! Lass uns in Ruhe! Du hast hier nichts zu suchen! Geh!“ Aufgebracht hatte sie die ersten Worte so laut geschrien, dass ihre Raben vor Schreck los gezetert hatten.
Irritiert von der brodelnden Stimmung, die sie selber auf die bisher eher ruhige Lichtung gebracht hatte, wurde sie nach den ersten zwei Sätzen ruhiger und fand ihre Fassung wieder. Beherrscht, aber keineswegs nachgiebig, beharrte die Frau darauf, dass der junge Mann verschwinden sollte.
„Warum sollte ich?! Dies ist ein freies Land!“ erwiderte er keck und bot ihr damit die Stirn. So leicht würde er sich nicht mehr von seinen Lieblingsvögeln trennen lassen. Zugegeben, er hatte ihr Futter geklaut. Aber so ausgehungert sahen die Krähen jetzt nicht aus, dass dies eine Rolle spielen sollte. Er würde es darauf ankommen lassen.
„Das sind meine Krähen! Du störst sie, und Du klaust ihr Futter! Verschwinde endlich!“ Das stimmte zwar nicht wirklich, dass die ganze Schar ihr gehörte. Dennoch, Rovena hatte die anderen Krähen soweit gebracht, dass sie freiwillig blieben, wenn sie es wollte.
Dass der junge Mann so hartnäckig darauf beharrte, bleiben zu wollen, das passte der Frau überhaupt nicht.
Da er keinerlei Anstalten machte zu gehen, griff sie zum letzten Mittel, das ihr noch blieb. Mit zuckersüßer Stimme und einer berechnenden Durchtriebenheit fragte sie ihn: „Dir gefallen die Krähen wohl sehr? Wie ist Dein Name?“ Überrascht von den Fragen und dem so plötzlich geänderten Ton, antwortete Florian ohne zu überlegen: „Ja, sehr... Florian. Ich heiße Florian.“
Bevor der Junge wusste, wie ihm geschah, hatte ihn die Magierin schon um den kleinen Finger gewickelt. „Du weißt jetzt schon, dass ich etwas tun muss, was Dir vielleicht nicht gefallen wird, Florian.“ Und Florian nickte zögernd, obwohl er liebend gern den Kopf schütteln wollte. Ihre Stimme hatte etwas betörendes, und ihre Stimmlage hatte sich mit einem Mal komplett geändert und klang jetzt fast ein wenig unheimlich, wenn nicht gar bedrohlich.
„Von Morgen in zwei Wochen an wird der Tribut für die Krähen von Dir eingefordert werden!“ Sie machte eine bedeutsame Pause, um ihren Worten mehr Nachdruck zu verleihen. Sie wollte seine aufkommende Angst spüren.
Und tatsächlich machte sich in Florian ein seltsames Unbehagen breit. Aber niemals hätte er zugegeben, dass er so etwas wie Angst verspürte. „Tribut?“ fragte er vorsichtig und hoffte, dass das Zittern in seiner Stimme nicht zu hören war. Die Frau wurde ihm immer unheimlicher.
Anstatt einer direkten Antwort orakelte die unheimliche Frau weiter: „Von morgen in zwei Wochen an wirst Du selber zur Krähe werden. Und Du darfst niemandem jemals etwas davon erzählen, wenn Dir dessen Leben lieb ist!“
Florian verstand jetzt gar nichts mehr. Für ihn waren die leeren Worte dieses Weibes reines Geschwätz. Sie erbrachte nicht einen Beweis dafür, dass sie das auch wirklich zu Wege bringen würde. Aber provozieren wollte er sie auch nicht weiter.
Wer weiß, vielleicht steckte doch mehr hinter ihrer Drohung als er dachte. Auf jeden Fall könnte die Strafe nicht besser für ihn sein. Er sah es eher als Belohnung, wenn sie das wahr machen konnte, was sie androhte.
Rovena pfiff den Rabenvögeln etwas zu, worauf diese wie auf Kommando abhoben und davon flogen. Sie kümmerte sich nicht weiter um den Jungen und ging zurück in den Wald. Sie hatte ihren Fluch bereits als Zauber gewirkt und dieser war unumkehrbar. Jetzt kam es darauf an, was er daraus machen würde.
Aber verfolgen würde sie sein Tun dennoch. Irgendwie hatte sie den Eindruck gewonnen, dass ihm ihr Fluch gar nicht so ungelegen kam.
Florian wollte plötzlich nur noch so rasch wie möglich nach Hause. Es dämmerte bereits und ihn fröstelte.
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