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Autor Thema: Metamorphose II (Neubeginn)  (Gelesen 5464 mal)
Greldon
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Wesen & Alter: Drache. 38
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« am: 13.Januar.2008, 21:48:50 »

Euch allen - mit ein paar Tagen Verspätung - noch ein gutes, neues Jahr.
Mittlerweile habe ich meinen "Metamorphosen-Zyklus" zu Ende gebracht.

Hier nun aber vorerst die zweite Metamorphose, doch deutlich länger als die erste :-)

Viel Vergnügen beim Lesen.
Und wie immer, alles frei erfunden, et cetera pépé.
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Greldon
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Wesen & Alter: Drache. 38
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« Antworten #1 am: 13.Januar.2008, 21:49:54 »

Metamorphose II (Neubeginn)

Die rotglühenden Augen verblassten, als das schrille Läuten des altmodischen Weckers, dessen penetrantes Ticken den jungen Mann die halbe Nacht wach gehalten hatte, ihn um dreiviertel fünf in die Wirklichkeit zurückholte.
Wie jeden Morgen wartete er noch, bis sich zusätzlich sein Radiowecker einschaltete und ihn mit den ersten Nachrichten versorgte. Meist waren es keine guten Meldungen, die über den Äther kamen, doch gab es auch die mehr oder weniger nützliche Information aus der lokalen Wettervorhersage.
Heute sollte es halbwegs warm werden, nach Auflösung des dichten Septembernebels - ein klassischer Altweibersommertag eben.
Diese Zeit mochte er am liebsten, jene Zeitspanne vom Beginn des Münchner Oktoberfestes bis zum Heiligen Abend. Eine Zeit voller Träume, Magie und Melancholie.
Auf dem Weg ins Bad aktivierte er seine Kaffeemaschine, um gleich nach dem Rasieren frühstücken zu können. Wie üblich wollte er den Frühzug in die Stadt erwischen. Da waren die Chancen, einen Sitzplatz zu bekommen, noch relativ hoch.

Seit gut dreißig Jahren lief sein Leben nach diesem Schema ab. Er verließ morgens um halb sechs das Haus, kehrte meist am frühen Abend zurück.
Mit seinen knapp fünfzig Lenzen war er immer noch Single. Nicht, dass er schlecht aussah, aber irgendwie hatte er noch nicht die Frau gefunden, nach der er suchte. Einige Techtelmechtel - One-Night-Stands - ja, aber die große Wurf war nie dabei gewesen.
Wenn er sich wenigstens im Klaren darüber gewesen wäre, wonach er eigentlich suchte. Er wusste einzig um eine große Leere in ihm, weil er sie täglich verspürte. Eine Leere, die ihn zu verschlingen drohte.
Anfangs konnte er dieses Vakuum noch füllen mit seinem Beruf. Als Versicherungskaufmann hatte er Karriere gemacht. In seiner Freizeit hatte er Geschichten geschrieben, mit recht großem Erfolg. Anscheinend hatte er mit seinen Sehnsüchten die Seelen seiner Leser angesprochen. Doch er hatte seine schriftstellerische Ader nicht genutzt, ihm fehlten dazu der Ehrgeiz und gewissermaßen auch der Mut, im Rampenlicht zu stehen.
Vielleicht war dieser Mangel an Risikobereitschaft und dem notwendigen Ellenbogen mit eine Ursache für seine gegenwärtige Situation.

Er hatte sich damit abgefunden. Seit einigen Wochen führte ihn sein Weg in die Innenstadt nicht mehr zu dem würfelförmigen, verglasten Bürokomplex, sondern in die entgegengesetzte Richtung in einen nahegelegenen Park. In seiner Wohnung hielt er es tagsüber kaum noch aus.
Er dachte, es wäre sozusagen eine Beziehung - ein Bündnis - fürs Leben gewesen, als er bei diesem Versicherungsunternehmen angefangen hatte.
Er verdiente gutes Geld und stieg aufgrund seiner guten Leistungen auf. Er war stolz darauf, dass er es aus eigenem Antrieb und nicht wie viele seine Kollegen mit Kriecherei schaffte. Er war berüchtigt aber auch geschätzt ob seiner sehr oft berechtigten Widerworte gegenüber seinen Vorgesetzten und ihm machte seine Arbeit Spaß. Sie füllte einen Teil seiner Leere in seinem Leben.
Doch diese Allianz mit seinem Arbeitgeber brach, als das Management, wie so viele andere Konzernleitungen in diesem Lande auch, beschlossen hatte, Synergieeffekte zum Nutzen der Aktionäre und des Vorstandes zu erzielen und daher den kompletten Standort in dieser Stadt schloss. Der Personalrat, ohnehin nur eine Farce, hatte zwar gebührlich protestiert, die Gewerkschaften hatten pflichtschuldig zu Warnstreiks aufgerufen und Politiker aller Parteien gegen die Unverantwortlichkeit der Wirtschaftsbosse gewettert, doch an der Situation hatte das nichts geändert. Es war klar, wer in diesem Land die Fäden zog, und er war nur eine Schachfigur in einem undurchsichtigen Spiel. Ein Bauer. Und nun hatte es eben das unvermeidliche Baueropfer gegeben, in diesem Fall standen mehrere hundert Leute auf der Straße.
Rüdiger hatte den Park erreicht, ließ sich auf seiner angestammten Bank nieder und schlug die Tageszeitung auf, den Stellenmarkt. Abends würde er dann noch im Internet die einschlägigen Jobbörsen durchforsten. Aber tief im Inneren wusste er bereits, was er sich nicht eingestehen wollte: Mit Fünfzig Jahren war man auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr vermittelbar.
Er wollte sich nicht die Blöße geben, Arbeitslosengeld zu beantragen, zumal man auf die glorreiche Idee gekommen war, dass der Betroffene zunächst seine private Altersvorsorge aufbrauchen musste, bevor er überhaupt die staatliche Zuwendung bekam.
Rüdiger ballte die Fäuste: So ein Schwachsinn konnte auch nur einem Juristengehirn entsprungen sein. Diese ausgefressenen Bonzen in der Regierung hatten doch jegliche Bodenhaftung verloren. Doch zu seinem Bedauern war die Bevölkerung seines Landes viel zu phlegmatisch, irgendetwas zu ändern. Man klagte, doch man ging nicht auf die Straße. Voller Neid dachte er an Nachbarländer - da brannten schon einmal Autos, wenn die aufgebrachten Bürger den Staat auf akute Missstände aufmerksam machen wollten. Sicherlich, Gewalt war keine Lösung, doch Stillschweigen auch nicht.
Rüdiger hatte seinen Beitrag geleistet. Er hatte in seinen Geschichten immer wieder Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen geübt, hatte sich selber stets so verhalten, dass er sich selbst in die Augen blicken konnte, wenn er sich morgens vor dem Badezimmerspiegel rasierte.

Die Sonnenstrahlen bahnten sich ihren Weg durch den Morgennebel. Bald würde er kommen. Er war derzeit das Einzige, das ihn aufheiterte, das ihm das Gefühl gab, gebraucht zu werden - und geliebt.
Er hatte ihn Balto getauft, weil er ihn so an jenen Zeichentrickfilmhelden erinnerte, dieser Köter, ein Huskymischling. Irgendjemand - Rüdiger würde nie verstehen können, wie ein Mensch dazu fähig sein konnte - hatte ihn wohl zur Urlaubszeit ausgesetzt und seitdem hatte sich dieser Hund durchgeschlagen. Rüdiger hätte ihn am liebsten bei sich aufgenommen, doch in seiner Wohnung waren Haustiere nicht erlaubt und eine andere Bleibe konnte er sich nicht leisten. Selbstverständlich hatte er den Tierschutzverein informiert, doch das Tier war zu raffiniert, um sich hinter Maschendrahtzäune bringen zu lassen. Inzwischen war er zu einer Art Maskottchen für den Stadtteil geworden.
Balto spürte, wie es nur Vierbeiner konnten, dass dem Menschen irgendwelche Sorgen plagten und ließ sich in der Nähe von Rüdiger nieder, um sich ab und an den weichpelzigen Schädel kraulen zu lassen oder ihn mit der feuchten Hundenase von Zeit zu Zeit sanft anzustupsen.
Seit Wochen, beinahe seit dem ersten Tag in diesem Park, hatte Rüdiger ihn zur Gesellschaft. Dass das Tier dafür seinen Tribut forderte, war klar, doch der Mann hatte immer den einen oder anderen Leckerbissen für seinen vierbeinigen Freund dabei.
Heute war es jedoch nicht wie sonst: Zwar schien Balto schon auf „seinen“ Zweibeiner gewartet zu haben, aber er wirkte seltsam distanziert. Zunächst akzeptierte er hoheitsvoll die Liebkosung, doch dann entzog er sich der schmeichelnden Hand. Er warf Rüdiger einen Blick zu, der Bände sprach.
Jetzt erst bemerkte der Mensch das Halsband und eine Hundemarke. Offensichtlich hatte der Streuner ein neues Zuhause gefunden. Ihm war klar, dass sie sich nie wieder sehen würden.
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« Antworten #2 am: 13.Januar.2008, 21:50:31 »

Hoch oben, kaum mehr als ein kleiner Punkt in den Schleierwolken kreiste der Raubvogel und beobachtete. Sein Gefieder wurde durch die aufgehende Sonne gewärmt und erstrahlte in feurig gold-kupfernem Glanz. Fast schien es, als würde er gänzlich aus lodernden Flammen bestehen, so wie jener sagenhafte Feuervogel, den man gemeinhin unter der Bezeichnung Phoenix kannte.
Die Menschen unten nahmen keinerlei Notiz von diesem prachtvollen Geschöpf, obwohl es jeden Tag über diesem Park seine Bahnen zog: Ein stattlicher Falke von für seine Art ungewöhnlicher Größe.
Für heute hatte er genug gesehen. Ein kurzes rötliches Augenaufblitzen, als er sich höher in den Himmel schraubte. Ihm war nicht das Geringste von dem, was sich unten am Boden an diesem Morgen abspielte, entgangen. Rüdigers Kummer um den Verlust des vierbeinigen Freundes war für den Falken nahezu körperlich fühlbar.
Er kannte diesen Menschen sehr gut. Er hatte ihn nicht nur während der letzten Wochen beobachtet...
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« Antworten #3 am: 13.Januar.2008, 21:52:04 »

Rüdiger legte die Zeitung fein säuberlich zusammen. Die Zahl der Stellenangebote hatte sich zwar wieder erhöht, aber die Unternehmen suchten in erster Linie Billigkräfte. „Zur Gewinnmaximierung sind die Personalkosten so niedrig wie möglich zu halten“, hieß es schon in den Lehrbüchern, die er als Student zu verinnerlichen hatte vor - wie es ihm schien - so langer Zeit, in einem anderen Leben.
Doch in seinem jetzigen Alter half ihm sein erfolgreich abgeschlossenes betriebswirtschaftliches Studium auch nichts mehr. Ökonomisch betrachtet gehörte er zum alten Eisen, war totes Humankapital und eigentlich abgeschrieben...
Er überdachte seine gegenwärtige Situation. Noch hatte er eine Wohnung, doch schon bald würde er die Miete nicht mehr bezahlen können, selbst wenn man ihm schließlich die Almosen - zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel - in Form des neuen Arbeitslosengeldes gewähren würde. Denn im Gegensatz zu raffinierten Menschen, die keinerlei Skrupel kannten und jede Schwäche des Systems ausnutzten, war Rüdiger viel zu redlich.

Er wusste selber nicht, wie er an diesen Ort gelangt war. Eine innere Stimme drängte ihn vorwärts, doch war sie keinesfalls schmeichelnd und lockend, sondern voller Bitterkeit, Verzweiflung und Wut.
Rüdiger stand auf der großen Holzbrücke und blickte auf die ruhig dahinfließende Isar. Der Fluss hatte Niedrigwasser und die breiten Kiesbänke, die im Sommer in den Isarauen zum Sonnenbaden und Grillen einluden, wurden durch die mittlerweile im Zenith stehende Herbstsonne erwärmt. Das schöne Wetter lockte viele Menschen in den Tiergarten, dessen Haupteingang über diese Brücke zu erreichen war.  
Doch Rüdiger verspürte ausnahmsweise nicht das Verlangen, dorthin zu gehen, obwohl der Zoo immer sein Rückzugspunkt in dieser Stadt gewesen war, wenn ihn etwas bedrückte.
„Alles in Ordnung?“ Die Frauenstimme ließ ihn zusammenzucken.
„Ja, danke. Alles in Ordnung“, erwiderte er langsam, ohne sich jedoch umzudrehen. Er starrte weiterhin auf das Wasser, wohl wissend, dass er sich momentan äußerst unhöflich verhielt. Er lauschte auf verhallende Schritte, doch er hörte nur die der übrigen Passanten, die über die Brücke gingen.
„Springen ist keine Lösung. Es gibt immer einen anderen Ausweg.“
Jetzt musste sich Rüdiger der Frau zuwenden, ihre Blicke schienen sich gleich Dolchen in seinen Rücken zu bohren.
Irgendwie kam sie ihm vage bekannt vor. Sie war ganz in schwarz gekleidet und trug eine dunkle Sonnebrille. Irgendwie mochte Rüdiger dieses Gothic-Outfit bei Frauen.
„Kenne ich Sie?“ fragte er ein wenig plump.
„Möglich.“ Die Frau, dessen Alter Rüdiger nicht einschätzen konnte, lächelte ihn an. „Überdenken Sie Ihr Tun einfach noch einmal. Irgendjemand würde Sie bestimmt ganz furchtbar vermissen. Abgesehen davon, ist das, was Sie vorhaben, pure Feigheit und durch nichts zu rechtfertigen.“
„Aber...“, wollte Rüdiger gerade protestieren, doch die Frau war plötzlich aus seinem Blickfeld verschwunden. Mussten ausgerechnet jetzt drei Busladungen Japaner vorbeikommen?
„Egal, was weiß denn die schon.“ Er wandte sich wieder achselzuckend dem Wasser zu. Die anderen Menschen nahmen keinerlei Notiz von ihm und er war froh darüber.
Eine plötzliche Bewegung links vor ihm ließ ihn aufblicken. Ein großer Vogel war auf einer Weide gelandet, deren Zweige das Wasser berührten. Es musste sich um einen Greifvogel handeln. Ein Falke, doch irgendwie war er dafür viel zu groß.
„Wahrscheinlich ist er aus dem Zoo ausgebüchst“, dachte er sich und versuchte dabei fieberhaft, die beiden rotglühenden Punkte zu ignorieren, die Augen dieses Vogels. Eine Sinnestäuschung, denn Vögel mit Dämonenaugen gab es nicht und würde es niemals geben. Dennoch waren ihm diese rotglühenden Augen seltsam vertraut. Aber es war nicht mehr als eine blasse Erinnerung, so wie er eben das vage Gefühl gehabt hatte, die schwarzgekleidete Frau zu kennen.
Er blieb den ganzen Nachmittag auf dieser Brücke stehen, unschlüssig. In seine Wohnung wollte er nicht zurück, er wusste, dass er darin den Verstand verlieren würde. In seinem Kopf wirbelten Farben, seine Gefühle fochten heftige Kämpfe miteinander und die ganze Zeit über schien ihn dieser Vogel zu beobachten wie ein Tiger, der seine Beute mit unerbittlicher Ausdauer und Geduld belauert, bereit, zum richtigen Zeitpunkt zuzuschlagen.
Erst als er immer weniger Schritte und Straßenlärm hörte, wurde ihm bewusst, dass die Sonne längst untergegangen war. Immer noch starrte er auf das Wasser, doch sein eigentlicher Blick schweifte in die Ferne, eine Leere, die der seines Lebens entsprach. Die roten Lichtpunkte brannten sich in seine Brust, in seine Seele. Er fühlte sich ausgelotet und erforscht.
Dann ging alles blitzschnell und wenn ihn jemand gefragt hätte, was er da tue, so hätte er keine Antwort parat gehabt.
Einem plötzlichen Impuls folgend schwang er sich auf die breite Brüstung und breitete seine Arme aus. Doch genau in diesem Augenblick spürte er einen unsinnigen Stoß gegen seine Rippen und er fiel rücklings von dem Brückengeländer. Etwas Weiches, Knirschendes verhinderte, dass er sich den Kopf auf den Holzbohlen aufschlug. Dennoch war der Aufprall hart genug, dass er benommen auf dem Rücken liegen blieb. Etwas Schweres lastete auf seiner Brust und er fühlte etwas sein Hemd und seine Haut durchdringen, scharf und hart wie eine Klinge.

[Fortsetzung folgt]
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« Antworten #4 am: 14.Januar.2008, 20:36:11 »

Seine Wahrnehmung klärte sich langsam und er zuckte erschrocken zusammen. Auf seiner Brust saß dieser große Vogel, der Falke. Dessen roten Augen glühten und schienen voller Zorn und Vorwürfe. Der linke Flügel hing schlaff herab, offensichtlich war er gebrochen.
Das Beunruhigende war aber der scharfe Schnabel unmittelbar vor Rüdigers Gesicht.
Vorsichtig versuchte der Mann sich aufzurichten, doch der Falke verlagerte sein Gewicht und seine Krallen schnitten in die Menschenbrust.
„Fein hast Du das gemacht! Vielen Dank auch! Bist Du eigentlich noch ganz bei Trost?“ Die Stimme klang krächzend und hohl wie die Aufnahmen einer alten Schellackplatte. Außerdem lag ein leichter Nachhall darin.
„Das gibt's doch nicht“, entfuhr es Rüdiger. Abgesehen davon, dass die Situation an sich schon völlig absurd war, hatte das Tier seinen Schnabel nicht einmal bewegt.
Das holte der Vogel nun nach, indem er drohend mit seinem Schnabel klickte.
„Weshalb soll es das nicht geben? Und nun hör auf, mich anzugaffen. Siehst Du nicht, was passiert ist? Den Flügel hast Du mir gebrochen mit Deiner Dummheit.“
„Aber...“
„Nichts aber!“ fuhr der Vogel den Menschen an. „Du solltest mich lieber gesund pflegen, damit ich nicht viel länger unter Euch dummen Menschen verweilen muss. Nichts als Ärger hat man mit dem Menschenpack. Du hast das mal wieder bewiesen, Du törichter Tölpel. Und nun beweg Dich, auf mit Dir, oder willst Du meinen Schnabel zu spüren bekommen?“
„Ich träume doch“, dachte sich Rüdiger, als der Falke ein wenig ungelenk von ihm herunterhüpfte.
Wie auf Kommando kniff der Vogel Rüdiger in die Schulter. „Traum, was?“
„Autsch! Der Schnabel ist scharf.“
„Das will ich auch meinen“, grollte der seltsame Vogel. „Und nachdem wir jetzt genug Zeit hier vertrödelt haben würde ich sagen, Du nimmst mich zu Dir in Deine Behausung. Oder möchtest Du, dass uns andere Menschen hier miteinander sprechen sehen?“
Etwas benommen erhob sich Rüdiger. Er rieb sich seine Schläfen. Einfach nur bis zehn zählen und dann würde der Spuk vorbei sein. Er zählte, schloss kurz seine Augen, öffnete sie wieder und...
„Ein interessantes Ritual!“ Die Stimme des Vogels troff vor Hohn.
„Was ist los? Willst Du mich nicht aufheben?“ schickte er vorwurfsvoll hinterher.
„Was?“
„Auf-h-e-b-e-n. Mich tragen. Oder wie meinst du soll ich mit meinem gebrochenen Flügel mit zu Dir kommen?“
„Ich, ich wollte eigentlich...“
„Jetzt hör mal gut zu, Mensch. Wenn Du glaubst, Du könntest Dich mir durch Flucht entziehen, dann unterschätzt Du mich.“ Die Augen wurden zu lodernden Feuerbällen. „Wenn Du mir nicht augenblicklich Deinen Arm reichst, damit ich auf Dich klettern kann, wirst Du Dein blaues Wunder erleben!“

Rüdiger schüttelte den Kopf und fügte sich. Was hätte er auch tun sollen. Er klammerte sich an die Vorstellung, dass alles nur ein Traum war. Er ging in die Hocke und streckte seinen Arm aus.
Die Krallen schnitten in sein Fleisch, als das Tier den optimalen Halt suchte und schließlich auf seine Schulter kletterte. Nicht umsonst waren Falkner meist in robustem Leder gewandet.
Zu dieser vorgerückten Stunde waren nicht mehr viele Menschen auf den Straßen und auch die öffentlichen Verkehrsmittel waren nahezu leer. Die wenigen Fahrgäste schienen jedoch von dem Mann mit dem Falken keinerlei Notiz zu nehmen.
„Nein, das ist keine Zauberei“, beantwortete das Vogelwesen Rüdigers unausgesprochene Frage. „Nur Ihr Menschen habt Euch angewohnt, Dinge, die außerhalb Eures engen geistigen Horizontes liegen, einfach zu ignorieren. Was Ihr glaubt zu wissen, dass es nicht gibt, das seht Ihr nicht einmal dann, wenn man Euch mit der Nase darauf stößt.“
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« Antworten #5 am: 14.Januar.2008, 20:37:08 »

Der Mann war froh als sie seine Wohnung erreichten und der Spießrutenlauf damit zu Ende war. Ständig hatte ihn der Vogel zur Eile angetrieben.
„Welch armselige Behausung Du hast“, nörgelte der Falke, als er sich auf der Rückenlehne des Wohnzimmersofas niederließ.
Rüdiger ignorierte diese neuerliche Spitze. Er hatte sich an seinen Computer gesetzt und begann mit der Onlinerecherche. Abgesehen davon, dass ein normaler Privatmann nicht so ohne weiteres einen wilden Raubvogel halten konnte, kam bei diesem noch erschwerend hinzu, dass dessen Flügel gebrochen war und behandelt werden musste. Von der Tatsache, dass dieser Falke auch noch sprechen und offensichtlich Gedanken lesen konnte, ganz zu schweigen.
Er notierte sich einige Adressen und Telefonnummern und fuhr dann den Rechner herunter.
„Am besten bringe ich Dich morgen in den Tierpark, die können sicherlich weiterhelfen.“
Der Falke erwidert nichts. Er hatte seinen Kopf unter den intakten Flügel gesteckt und schien eingeschlafen zu sein. Doch seine Augen funkelten listig als er für Rüdiger unhörbar brummte: „Das wollen wir erst mal sehen, mein Freund.“

„Sie wissen schon, dass das private Halten von Greifvögeln ohne behördliche Genehmigung strafbar ist? Wo haben Sie dieses Tier überhaupt her? Haben Sie überhaupt die Möglichkeit, den Falken artgerecht zu halten?“
„Aber das ist es ja, was ich dauernd versuche, Ihnen zu erklären!“
Rüdiger war mit seinen Nerven und seiner Geduld am Ende: Seit knapp zehn Minuten versuchte er dem Menschen am anderen Ende der Telefonleitung die Problematik klarzumachen. Es erschien ihm logisch, zuerst beim Zoo anzurufen, denn dieser Falke konnte nur von dort stammen. Außerdem hatte der Tierpark selbstverständlich sämtliche Möglichkeiten, einen gebrochenen Vogelflügel wiederherzustellen. Doch der zuständige Bearbeiter, den er nun nach zahlreichem Weiterverbinden endlich an der Strippe hatte, war entweder furchtbar schwer von Begriff oder einfach nur unmotiviert.
„Ich habe diesen Falken in der Nähe des Zoos mit gebrochenem Flügel aufgefunden. Ich vermute eben, dass er Ihnen gehört. Selbstverständlich habe ich nicht vor, dass ich ihn hier halte.“
„Ist er beringt?“
„Be-was?“
„Beringt“, erklärte der Tierparkangestellte. „Unsere Vögel tragen alle einen gelben Ring an ihren Füssen, mit einer Nummer drauf. Daran können wir sie einwandfrei identifizieren.“
Rüdiger warf einen Blick auf den Falken, der sein Bestes tat, eine Leidensmine aufzusetzen. Er ließ seinen Flügel hängen und hielt dabei geschickt seine Beine außer Sicht des Menschen. In diesem Augenblick fiel Rüdiger auf, dass der Vogel schon lange nicht mehr gesprochen hatte und er fragte sich, ob er sich das nicht doch alles gestern nur eingebildet hatte. Das hier war nur ein prächtiger Falke, wenngleich auch ein sehr großer.
„Tut mir leid, das kann ich nicht erkennen. Ich traue mich auch nicht, genauer nachzuschauen.“
Der Mann vom Tierpark seufzte. „Also gut. Bringen Die den Vogel her. Wenn Sie ein Auto haben, fahren Sie am besten gleich zum Tor drei auf der Westseite. Dort ist auch unser Veterinär.“

Es war beinahe zu einfach. Widerstandslos hatte sich der Falke von Rüdiger in einen großen Pappkarton setzen lassen und gab auch während der Fahrt zum Tierpark auf dem Rücksitz keinen Mucks von sich. Rüdiger gelangte immer mehr zu der Überzeugung, dass seine Phantasie am Vortag mit ich durchgegangen war. Dennoch steckte tief in ihm die Sorge, dass der Vogel im unpassenden Augenblick wieder zu sprechen anfing.
Der Tierarzt schiente den Vogelflügel und meinte schließlich: „Mehr kann ich leider nicht für Sie tun. Eine prächtige Falkendame haben Sie sich da übrigens angelacht. So ein herrliches Gefieder. Sorgen Sie gut für sie, ein paar Wochen braucht das schon, bis die Verletzung ausgeheilt ist.“
„Wie bitte, ich dachte, Sie behalten den Vogel gleich da?“ protestierte Rüdiger.
„Das geht leider nicht. Herr Bautz hat es ihnen ja vorhin schon erklärt. Sie stammt nicht aus unserem Bestand. Und aufgrund der grassierenden Vogelgrippe können wir das keinesfalls riskieren, ihn zu uns zu nehmen. Ich habe ihr vorhin eine Blutprobe entnommen, in ein paar Tagen wissen wir dann diesbezüglich Genaueres.“
„Aber was soll ich denn machen? Ich lebe in einer Stadtwohnung und ich habe doch gar keine Ahnung, wie man so ein Tier hält. Außerdem sagen Sie ja selbst, dass ich das auch gar nicht darf.“
„Das schaffen Sie schon. Es gibt jede Menge Fachliteratur. Und es ist ja nicht auf Dauer. Nach ein paar Wochen melden Sie sich noch einmal bei uns, das Auswildern sollte kein Problem darstellen, da helfen wir Ihnen dann gerne dabei.“
Der Tonfall des Tierarztes zeigte an, dass die Sprechstunde vorbei war. „Mein Kollege gibt Ihnen draußen die Rechnung mit. Wenn Sie so freundlich wären, gleich bar zu bezahlen.“

„Hundertfünfundsiebzig Euro!“ entfuhr es Rüdiger. „Für eine läppische Plastikschiene und eine Laboranalyse.“
Vor allem war es nicht dabei geblieben: In einem Zoofachhandel hatte er sich einschlägige Fachliteratur besorgt, entsprechendes Zubehör und Futter.
Für den Falken hatte er in einer Ecke seines Wohnzimmers aus einer alten, großen Holzkiste, die er mit Zeitungspapier und Streu ausgelegt hatte, eine Art provisorischen Horst eingerichtet. Das Tier hatte gegen diese Art der Unterbringung keinerlei Einwände erhoben.
„Ich frage mich nur, wie ich mir das alles als Arbeitsloser leisten soll.“
„Leisten, was bedeutet das?“
Rüdiger zuckte zusammen. Das waren die ersten Worte seit beinahe vierundzwanzig Stunden, die der Falke gesprochen hatte.
„Naja“, begann er zögernd. „es kostet mich viel Geld, Dich zu halten. Aber das habe ich nicht, weil ich keine Arbeit habe.“
„Ich verstehe“, erwiderte der Vogel. „Nun, wenn es meiner Genesung förderlich ist, dann werde ich mich zunächst mit dieser Sorge von Dir auseinandersetzen.“
„Was meinst Du damit?“
„Was soll ich schon meinen!“ Die Stimme des Falken klang gereizt. „Du hast gehört, was dieser Heiler sagte. Es wird einige Zeit dauern, bis ich meinen Flügel, der nur durch Deine Torheit  – und dessen solltest Du Dir stets bewusst sein – verletzt ist, wieder bewegen kann. So lange bin ich gezwungen, bei Dir zu bleiben. Du kannst mir glauben, dass ich diese Zeit so kurz wie möglich halten möchte. Also helfe ich Dir dabei, das zu bekommen, was Du benötigst, um mich gesund zu pflegen.“
„Soll das heißen, dass Du...“, Rüdiger schluckte, „...Wünsche erfüllen kannst? Bist Du ein Zaubervogel?“
In seiner Jugend hatte der Mann viele Bücher gelesen, die sich mit Fabelwesen befassten, darunter auch Phönix oder der sagenhafte Simurgh. Genau bedacht sah dieser Falke jenem Fabeltier sogar ähnlich, wenn man das rotbraun gefärbte Gefieder, das auch einen leichten Goldschimmer aufwies, betrachtete. Doch der zornige Blick des Falken ließ den Gedankengang des Mannes erlöschen wie einen Funken, der auf Schnee fällt.
„Zaubervogel? Wünsche erfüllen? Pah!“ Der Vogel klickte drohend mit seinem Schnabel. „Noch so eine dummer Äußerung von Dir und ich picke Dir ein Auge aus.“
Erschrocken trat Rüdiger einen Schritt zurück.
„Nun, es ist nicht Deine Schuld, dass Du auf solch dumme Gedanken kommst, Rüdiger. Fünfzig Jahre unter Menschen, das muss den Geist verderben“, fuhr der Falke fort.
Sehr plötzlich ließ sich Rüdiger auf den nächst besten Stuhl nieder. „Du, Du kennst meinen Namen?“
Der Falke plusterte sich auf. „Selbstverständlich. Ich denke mal, dass ich Dich besser kenne, als Du nur erahnst, besser sogar als Du Dich selber kennst.“
„Aber wieso? Wer bist Du?“ fragte Rüdiger leise.
„Das wirst Du erkennen, wenn die Zeit dafür reif ist. In der Zwischenzeit kannst Du mich jedoch Riskar nennen.“
„Riskar? Ist das Dein Name?“
Der Falke stieß einen Seufzer aus: „Bist Du immer so schwer von Begriff?“
„Bitte verzeih. Es ist nur so, dass ich irgendwie... überfordert bin mit dieser Situation. Ich hatte noch nie mit einem sprechenden Vogel zu tun, zumindest nicht mit einem so großen wie Dir.
Riskar nickte gnädig.
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« Antworten #6 am: 14.Januar.2008, 20:38:23 »

In den nächsten Tagen änderte sich Rüdigers Lebensrhythmus grundlegend. Zwar studierte er immer noch regelmäßig die Stellenangebote in den Zeitungen und im Internet, aber er ging nicht mehr in diesen Park. Er befasste sich intensiv mit der Falknerei, las Fachaufsätze und tat nach Kräften, dass sich Riskar einigermaßen wohlfühlte. Er fühlte sich an der Verletzung des Falken schuldig. Sein Gewissen plagte ihn, da dieser Vogel ihn vor einer großen Dummheit bewahrt hatte . Im Nachhinein war es ihm ohnehin unverständlich, dass er bereit gewesen war, sein Leben wegzuwerfen.
Riskar dankte es dem Menschen, indem sie sich von Tag zu Tag mehr erholte und den Menschen immer weniger beschimpfte oder ihm Vorhaltungen über irgendwelche verpassten Gelegenheiten in seiner Vergangenheit machte. Außerdem hatte es den Anschein, dass sie mit jedem Tag ein wenig größer wurde.
Noch etwas änderte sich in Rüdigers Leben. Er hatte sich nie als jemand gesehen, der unbedingt – sofern es das überhaupt gab – auf der Sonnenseite des Lebens wandelte, doch nun schien er eine Art Glückskind geworden zu sein: Wenn er den Supermarkt betrat, war er der zehntausendste Kunde und bekam einen Einkaufsgutschein überreicht. Kleinigkeiten eigentlich, aber sie bereiteten ihm Freude. Interessanter Weise gewann er niemals Geld, dafür aber immer Dinge, die er gerade gut gebrauchen konnte. Nur eine neue Arbeitsstelle, die bekam er nicht, so sehr er sich auch bemühte. Nicht einmal als Aushilfskraft in einem Fastfood-Restaurant wurde er beschäftigt. Mit fünfzig Jahren sei er zu alt für einen Arbeitsplatz in der Systemgastronomie.
Aber er gab nicht auf und die Anwesenheit des Falken gab ihm die Kraft, die Enttäuschungen wegzustecken. Dennoch quälten ihn verständlicher Weise jeden Abend vor dem Einschlafen Existenzängste. Wie würde es weitergehen?
Manchmal ertappte er sich dabei, dass er nachts am offenen Fenster stand und in den Sternenhimmel starrte. Als Jugendlicher hatte er sich so oft vorgestellt, dass aus den unendlichen Weiten des Himmels ein Drache herunterschoss und den Menschen entführte, fort in eine bessere Welt und in ein besseres Leben. Mit zunehmendem Alter und Reife hatte er diese Art von Träumerei natürlich aufgegeben, doch seit einigen Wochen fiel ihm diese naive Schwärmerei wieder ein.
„Dann sage mir doch, Rüdiger, was Du machen würdest, wenn wirklich ein Drache vom Firmament herabsteigen würde und Dich mit sich nimmt?“
Ohne dass er es bemerkt hatte, war Riskar in das Schlafzimmer gekommen und stand neben dem Mann. Rüdiger wurde sich nun zum ersten Mal der Größe dieses Falken so richtig bewusst: Das Tier reichte ihm mittlerweile beinahe bis zum Bauchnabel.
„Oh, Du schläfst nicht? Was macht Dein Flügel?“ fragte Rüdiger, dem es sichtlich peinlich war, dass er solch kindische Gedanken hegte und diese dem Vogel nicht verborgen geblieben waren.
„Nicht ganz die Antwort auf die Frage, die ich Dir gestellt habe, findest Du nicht?“ entgegnete Riskar sanft. „Also, was hast Du für eine Antwort für mich parat?“
„Ich weiß es nicht, ehrlich gesagt.“ Rüdiger sah dem Falken feste in die Augen. „Soweit habe ich nie darüber nachgedacht.“
„Dann tu es jetzt“, forderte ihn der Falke auf. „Was würdest Du tun, wenn nun ein Drache – klopf! klopf! – vor Deinem Fenster sitzt? Was würdest Du ihm sagen?“
„Das wäre wohl zu schön, um wahr zu sein“, murmelte Rüdiger. „Wahrscheinlich würde ich ihn fragen, ob er mich auf seinem Rücken fortträgt, weit fort von hier, in eine bessere Welt.“
„Wirklich?“ höhnte Riskar. „Ich denke hingegen, dass Du nichts dergleichen sagen würdest. Du würdest Dich vor Angst am ganzen Leibe zitternd unter Deinem Bett verkriechen und zu Deinem Gott beten, dass Du möglichst schnell aus diesem Albtraum erwachen würdest.“
„Wahrscheinlich hast Du Recht.“ Rüdiger lächelte und schloss das Fenster. „Nun gut, ich denke, wir sollten schlafen gehen.“
Er legte sich nieder und wollte gerade das Licht ausknipsen, als er bemerkte, wie sehr sich Riskar abmühte, ebenfalls ins Bett zu gelangen.
„Das ist jetzt aber nicht Dein Ernst, oder?“ fragte Rüdiger.
„Nun mach schon, sei barmherzig und teile die Wärme des Nestes mit mir“, raunzte der Falke. „Die Nächte sind kalt geworden.“
„Außerdem dient es meiner Genesung“, fügte Riskar noch triumphierend hinzu, als sie der Mensch zu sich ins Bett hob.
Als Rüdiger das Licht löschte, begann der Falke unvermittelt: „Angenommen, dieser Drache würde Dich nicht zu einem Häufchen Asche verbrennen und Dich auch nicht fressen, sondern Dir in der Tat anbieten, mit ihm zu kommen. Was wäre Deine Antwort?“
„Ich würde selbstverständlich sofort mit ihm gehen“, kam es wie aus der Pistole geschossen.
„Etwas schnell, Deine Antwort, mein Freund“, gab Riskar zurück. „Würdest Du wirklich mit dem Drachen gehen wollen, auch wenn es bedeutet, dass es keine Wiederkehr gibt und Du alles hinter Dir lassen müsstest?“
„Ich denke schon.“ Doch in Rüdigers Stimme schwang ein Hauch Unsicherheit mit.
„Gibt es wirklich nichts, was Dich auf dieser Welt halten könnte? Familie, Freunde, jemand, den Du liebst? Eine Verantwortung für etwas?“
Rüdiger schüttelte den Kopf. Meine Eltern sind lange tot, eine eigene Familie habe ich nicht und die paar Freunde... ich glaube, denen ist es irgendwie egal, ob ich da bin oder nicht. Und was Verantwortung anbelangt... da habe ich auch nichts, ich bin arbeitslos, wie Du weißt. Nein, dieser Gesellschaft fühle ich mich nicht verpflichtet. Meinetwegen kann ein Meteor morgen in diesen planeten einschlagen, dann wäre der Mist wenigstens endlich vorbei.“
„Du klingst ziemlich verbittert. Doch erscheinst Du mir nicht wie jemand, der wirkliches Leid, Elend und Not gesehen hat.“
„Das mag sein“, räumte Rüdiger ein und errötete leicht.
„Und was ist mit der Verantwortung, die Du gegenüber Balto hast?“
Rüdiger zuckte zusammen, denn ihm war klar, dass der Falke eigentlich fragen wollte „und was ist mit Deiner Verantwortung mir gegenüber?“
Der Mensch flüchtete sich in die Burg seines Stolzes: „Balto? Dieser Köter? Wenn Du schon so gut über mich Bescheid weißt: Ja, er ist mir ans Herz gewachsen. Aber Du hast sicherlich auch mitbekommen, dass er nun ein festes Zuhause hat, sein eigenes Herrchen. Eigentlich ist er nicht anders als die Menschen: Freundschaft nur bis zu dem Punkt, wo ein anderer kommt, der mehr zu bieten hat.“
„Und Du meinst, bei Drachen wäre das anders?“
Rüdiger zögerte. „Naja, es ist ein Wunschdenken, zugegeben. Aber was soll’s. Es ist müßig darüber zu reden, denn Drachen gibt es schließlich nicht. Also werde ich wohl auch nie vor dieser Wahl stehen.“
Riskar überhörte diese Bemerkung: „Du glaubst also, dass es eine bessere Welt gibt als die, in der Du jetzt lebst. Das mag vielleicht sogar der Fall sein, doch Du weißt ganz genau, dass es für Dich keine bessere Welt geben wird. Denn Du müsstest Dich dort erst bewähren. Eine bessere Welt ist nicht das Ergebnis einer besseren Gesellschaft, sondern dessen, was Du selber bist. Und nun wünsche ich Dir eine angenehme Nachtruhe.“
Als ob ihm jemand eines mit einem Knüppel übergezogen hätte, glitt der Mann nahezu augenblicklich in das Reich des Schlafes. Riskar lauschte den gleichmäßigen Atemzügen ihres Menschen. „Noch nicht“, gurrte sie leise. „Noch nicht, aber bald.“ Ihre Augen waren zwei rotglühende Dioden in der Schwärze der Nacht.

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« Antworten #7 am: 15.Januar.2008, 20:34:00 »

Die Tage gingen ins Land und die Falkenpflege war für Rüdiger mit der Zeit zur Routine geworden. Riskars Flügel heilte allmählich aus und am dritten Novembermorgen war es soweit: Die Schwingen des Falken waren wieder einsatzbereit.
Mittlerweile war auch schon der erste Schnee gefallen, freilich blieb er noch nicht liegen, trotz des Chaos, das er in den morgendlichen Berufsverkehr gebracht hatte. Rüdiger fragte sich, ob er es wirklich verantworten konnte, den Falken zu dieser Jahreszeit in die freie Natur zu entlassen.
Er hatte Rücksprache mit dem Tierpark gehalten und man gab ihm grünes Licht. Bei Bedarf würden sie ihn unterstützen, er bräuchte nur vorher anrufen.
Doch Rüdiger tat – unbewusst oder bewusst – alles, um diesen Anruf hinauszuzögern. Auch Riskar schien keine Anstalten zu machen, die warme Wohnung gegen die kalte Winternatur eintauschen zu wollen. Dennoch wurde der Vogel von einer gewissen Unruhe ergriffen, die auch der Mensch verspürte.
Riskar war Rüdigers Lebensmittelpunkt geworden. Sie gab ihm das Gefühl zurück, gebraucht zu werden und zu etwas nutze zu sein. Wenn auch die Arbeitswelt meinte, er würde schon zum alten Eisen gehören und damit für das Wirtschaftsleben unbrauchbar, Riskar hatte ihn gebraucht. Unter seiner Fürsorge genas der Falke und Rüdiger kam es sogar vor, dass dieser ein wenig Fett angesetzt hatte. Ihm wurde schlagartig bewusst, wie sehr ihm Riskar ans Herz gewachsen war.
Doch ein Greifvogel gehörte nun einmal hinaus in die Natur, in die Wälder, in die Freiheit. Freiheit – das konnte Rüdiger Riskar trotz aller Fürsorge nicht bieten.
„Morgen rufe ich beim Tierpark an“, sagte Rüdiger unvermittelt, als sie am Freitag des ersten Adventwochenendes beim Abendessen saßen.
Mittlerweile hatte sich der Mensch daran gewöhnt, dass der Falke seit jenem einen Abend, an dem sie das Gespräch über Drachen geführt hatten, mit ihm das Bett und später auch den Tisch teilte.
„Ein Falke wie Du gehört in die Freiheit.“
Riskar hielt ihren Kopf schief und fiepte. Ihre Augen funkelten.
Schweigend fuhr Rüdiger mit seiner Mahlzeit fort, bis schließlich der Falke leise sagte: „Ich bin glücklich, dass Du zu dieser Erkenntnis gelangt bist, mein Freund. Ich fragte mich schon, wie lange Du noch warten wolltest.“
Rüdiger schluckte: „Naja, um ehrlich zu sein... Irgendwie konnte ich den Gedanken nicht ertragen, wieder alleine zu sein. Du hast mein Leben lebenswert gemacht. Aber es war egoistisch. Wie gesagt, gleich morgen früh werde ich dort anrufen. Die schicken wen vorbei, der Dich abholt und auswildert.“
„Du brauchst dazu keine fremde Hilfe“, erwiderte der Falke. „Wenn der Zeitpunkt des Abschieds gekommen ist, möchte ich mit Dir alleine sein.“
Riskar streckte ihre Schwingen und plusterte sich wohlig auf. „Und nun iss endlich fertig, wir haben noch einen weiten Weg vor uns.“
„Was?“ Rüdiger ließ beinahe seinen Löffel in die Suppe fallen. „Wo willst Du denn leicht noch hin?“
Der Blick des Falken sprach Bände und Rüdiger hatte das Gefühl, dass kalte Finger nach seinem Herzen griffen, um es herauszureißen. Es bedurfte keiner weiteren Worte mehr, der Mann hatte verstanden. Schweigend aß er auf.
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« Antworten #8 am: 15.Januar.2008, 20:39:10 »

Sie waren mit dem Auto bereits eine knappe Stunde unterwegs und zum wiederholten Male fragte der Mann nach, wohin der Falke eigentlich wollte. Doch genau so oft erhielt er die Antwort: „Fahr einfach zu, ich sage Dir schon, wohin.“
Sie hatten die Stadt verlassen und fuhren auf der Autobahn in Richtung Gebirge. Massiver Schneefall hatte eingesetzt und obwohl Rüdiger umsichtig genug gewesen war, die Reifen bereits im Oktober wechseln zu lassen, kam er nur langsam auf der sich schließenden Schneedecke voran. Nur gelegentlich wurden sie von einem anderen Fahrzeug überholt, stadteinwärts fuhr überhaupt niemand.
„Du hast mich nie gefragt, woher ich gekommen bin“, begann Riskar unvermittelt. Das stimmte; jetzt, wo es der Vogel ausgesprochen hatte, fiel es auch Rüdiger auf. Dabei wäre das eine sehr naheliegende Frage gewesen.
„Ich bin Dir dankbar dafür, Rüdiger. Denn es ersparte mir einige sehr schwer verständliche Antworten. Genauso wie ich Dir dafür danke, dass Du niemals gefragt hast, woher ich Dich kenne. Hier musst Du jetzt übrigens gleich abfahren, wir sind fast da.“
Nach einer weiteren Stunde brachte Rüdiger schließlich das Auto auf Geheiß des Falken zum Stehen. Sie hatten kein weiteres Wort mehr miteinander gewechselt.
Sie standen auf einem großen Parkplatz, an dem es im Sommer vor Autos und Reisebussen nur so wimmelte. Jetzt hingegen war keine Seele zu sein und leise rieselte der Schnee. Ein leichter Wind ließ die Flocken tanzen. Rüdiger kannte diesen Ort. Wenn man geradeaus ging, würde man zu dem großen Bergsee gelangen, mit der weltberühmten malerischen Kappelle auf einer kleinen Insel, die ungefähr die Mitte des Sees markierte. In der Saison konnte man mit kleinen Ausflugsschiffen hinüberfahren. Hufeisenförmig um den See herum stiegen schroffe Felswände auf, wobei das Ostufer bewaldet war und man dort lange Wanderungen unternehmen konnte.
„Bring mich bitte zum Seeufer“, sagte Riskar sanft. Rüdiger nickte und zog sich den robusten Falknerhandschuh aus Leder an und hielt seiner Freundin den Arm hin. Riskar erklomm ihn und Rüdiger machte sich langsam auf den Weg. Der Schnee knirschte bei jedem seiner Schritte. Die Luft war frisch und rein. Obwohl der Falke so groß war, konnte ihn der Mann einigermaßen ausbalancieren und tragen. Dieser Vogel war nicht gar so schwer, wie man vermutet hätte.
Beide blickten schweigend auf das Wasser, dessen Oberfläche glatt und still lag wie ein schwarzer Spiegel. Doch zugefroren war der See noch nicht. Die Augen des Vogels glühten rot.
„Du wusstest, dass dieser Augeblick kommen würde, mein Freund“, sagte der Vogel leise. „Nun ist es an der Zeit, Dir Deine Fragen zu beantworten, die Du nie gestellt hast, nach deren Antwort aber Dein Herz geradezu schreit. Bitte setze mich genau an dieser Stelle ab.“

Rüdiger gehorchte und blickte den Vogel fragend an. Dieser hatte seine Flügel ausgestreckt und die Federn gespreizt. Den Menschen erinnerte dieser Anblick an Seevögel, die ihre Federn trocknen ließen.
„Nun denn“, begann Riskar. War es bloße Einbildung, oder kam ihm der Falke jetzt ein wenig größer vor als zuvor? Hier in der Dunkelheit, in der Rüdiger nur Schemen erkennen konnte, waren ihm sämtliche Größenrelationen anhanden gekommen. Der Wind frischte auf.
„In der Tat standest Du bereits seit Deiner Geburt unter Beobachtung. Man hatte mich dazu auserkoren, Dich unter meine Fittiche zu nehmen. So habe ich über Dein Leben gewacht. Ich habe Deine Kindheit gesehen und Deine Träume. Ja, ich weiß um Deine Sehnsüchte, die Du damals hattest, in all den Nächten, als Du am Fenster gestanden bist und nach Drachen Ausschau gehalten hast. Ich weiß auch, dass Du früher in der Schule nicht immer sehr fleißig gewesen bist. Oder dass Du als Student nach der Feier anlässlich einer endlich bestandenen Prüfung beinahe mit Deinem Auto gegen einen Baum geprallt bist. Damals war ich ziemlich im Stress, hatte ich doch da kurzzeitig die Verantwortung für zwei weitere Menschenleben.“
Rüdigers Gedanken überschlugen sich: „Wer bist Du? Bist Du mein Schutzengel?“
Riskar lachte leise: „Nun, wenn Du so willst. In der Tat ist es diese Bezeichnung, die Ihr Menschen für uns gewählt habt. Nur, dass für jeden Menschen dieser sogenannte Schutzengel etwas anderes ist.“
Das Leuchten der Greifvogelaugen wurde intensiver und Rüdiger durchzuckte es wie ein Blitz. Diese rotglühenden Augen hatte er schon früher immer wieder gesehen, in seinen Träumen, seit seiner Jugendzeit. Das letzte Mal in der Nacht auf jenen Morgen, als er diesem Falken, der mittlerweile schon wieder gewachsen schien, zum ersten Mal begegnet war.
Der Schneefall ließ ein wenig nach, aber der Wind wurde stärker. Die Dunkelheit der Nacht schien sich ein ganz klein wenig zu lichten.
„Ich habe auch gesehen, dass Du Dein Leben lang redlich gearbeitet hast und Dein Bestes gegeben hast, in dieser Gesellschaft zu bestehen. Und doch muss ich auch Tadel aussprechen“, fuhr der Falke fort.
„Inwiefern?“ Rüdiger war sich nicht sicher, ob das alles um ihn herum wirklich geschah.
„Du hast Dich aufgegeben. So sehr, dass Du schließlich Dein Leben wegwerfen wolltest. Dabei hattest Du das Rüstzeug, das Du gebraucht hättest, die Menschen zu beeinflussen.“
„Ich verstehe nicht!“, setzte Rüdiger an.
„Oh doch!“ fuhr Riskar mit einem Schnabelklicken den Menschen an. „Du weißt sehr wohl, von was ich spreche. Denn ich kenne sie schließlich alle.“
„Von was sprichst Du denn?“
„Von Deinen Geschichten, natürlich. Ich habe Dein eigenes Buch in Deiner Behausung stehen sehen, eingestaubt und vergessen inmitten anderer eingestaubter Bücher.“
„Ach, das meinst Du.“ Rüdiger lachte bitter. „Ja, ich habe damals ein paar Geschichten geschrieben und veröffentlicht im Internet. Kamen recht gut an, aber jetzt nicht so, als dass sie was bewegt hätten.“
„Wie willst Du das wissen? Weißt Du, was die Leser empfunden haben?“
„Naja, etwas positives Feedback gab es, doch oft war es nicht sehr objektiv. Denn meist kamen sie von jemandem, der mir nachgestellt hat. Ich glaube, dieser Fan hätte meine Geschichten auch noch hoch in den Himmel gelobt, wenn ich lauter chinesische Schriftzeichen hingepinselt und er nicht das Geringste davon verstanden hätte.“
Riskar schmunzelte: „Ach, das meinst Du. Das mag sein, aber diese Person verschwand schließlich doch aus Deinem Leben unter mysteriösen Umständen.“
„War auch gut so, ich wäre damals beinahe durchgedreht, auch wenn ich recht gut profitiert habe von dessen Naivität.“
„Wie dem auch sei“, Riskar wurde wieder ernst. „Mit diesen Geschichten hast Du die Herzen der Menschen, die noch nicht abgestumpft waren gegenüber dem Leben um sich herum, bewegt. Deshalb konntest Du auch das Buch verkaufen. Diesen Menschen hast Du geholfen. Nur finde ich es schade, dass Du von einem Tag auf den anderen aufgehört hast, Geschichten zu schreiben. Und das war der Beginn von Deinem langsamen aber steten Untergang.“
Rüdiger zitterte: „Ich verstehe nicht, was meine Geschichten mit meinem Leben zu tun haben.“
„Wirklich nicht?“ Die Falkenstimme hatte nun einen drohenden Klang angenommen. „Oder willst Du nicht verstehen? Diese Geschichten sind das, was Dich ausmacht. Jedes Wesen im gesamten Universum ist in seiner Art einmalig. Bei Dir sind es diese Geschichten. Meinst Du, man hat Dir diese Begabung zufällig in die Wiege gelegt?“
Die Falkenaugen schienen rote Funken zu sprühen: „Glaubst Du wirklich, irgendjemand meiner Art oder ich persönlich hätten Dich so unterstützt, wenn wir nicht das Potential gesehen hätten, das in Dir schlummerte und immer noch schlummert?“
Rüdiger trat einen Schritt zurück, er begann sich allmählich vor diesem Falken zu fürchten. In ihm keimte ein vager Verdacht auf, aber er verwarf diesen Gedanken sofort wieder – er war zu absurd.
„Inwiefern hat mich wer unterstützt?“
Die Stille war geradezu körperlich fühlbar. Selbst das Fallen der Flocken war nicht mehr zu hören.
Riskar antwortete mit einer Gegenfrage: „Wer glaubst Du, hat Deine Geschichten, die etwas bewegten, illustriert? Wer hat denn die Zeichnungen unter anderem zu Auf dem Weg nach Hause oder Fünf Meilen angefertigt? Wer hat Deine Verspannungen denn gelöst vor so vielen Jahren mit der Massage? Mit wem bist Du denn in jener Achterbahn gesessen? Mit wem hast Du damals beim Grillen geflirtet? Und wer hat Dich erst kürzlich auf dieser Holzbrücke darauf hingewiesen, dass Selbstmord Feigheit wäre? Rüdiger, sage es mir, wer?“
Die Gedanken des Mannes rasten und überschlugen sich. Das konnte doch alles nicht wahr sein. „Bist Du, bist Du...“, Rüdigers Stimme versagte. „...ein Drache?“
„Du bist ein Blitzmerker“, höhnte der Vogel vor ihm, der nun beinahe die Größe des Menschen angenommen hatte. Das Gefieder nahm einen goldenen Glanz an, der die Nacht erhellte. „Also ehrlich, Rüdiger, ich bin zutiefst enttäuscht, dass Du mich nicht schon früher erkannt hast.“

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« Antworten #9 am: 16.Januar.2008, 21:57:34 »

Der Sturm brach los ohne Vorwarnung und Rüdiger wurde regelrecht von den Füssen gerissen. Alles war auf einmal in ein gleißend helles, goldenes Licht getaucht, das von den beschneiten Felswänden und der Wasseroberfläche zurückgeworfen wurde.
Funken sprühten, Blitze zuckten durch die Nacht und der Falke stieß schrille Schreie aus, Schreie des Schmerzes und des Triumphes.
Rüdiger duckte sich auf den Boden, um ihn herum  tobte der Sturm aus purer Energie, aus purer Magie. Die Luft roch und schmeckte nach Ozon und war voll statischer Elektrizität. Der Mensch versuchte, den Kopf zu haben und einen Blick in das Chaos zu werfen. Dort, wo gerade noch der große Falke zu sehen gewesen war, gab es einen Wirbel aus Flammen und Licht: Ein gewaltiger Feuerball, der langsam Gestalt annahm. Kurzzeitig formte sich ein flammender Phönix mit einem kometenhaften Feuerschweif, so wie ihn Rüdiger aus alten Sagen kannte. Doch auch diese Form verlief gleich flüssiger Lava und die Konturen dehnten und streckten sich. Eine Feuerklaue schien nach dem Menschen zu greifen. Ein erneutes Aufblitzen und die Flammen verwandelten sich in einen Rausch aus Goldtönen, es formte sich ein prächtiger Schuppenleib und bernsteinfarbene Reptilienaugen glühten in die Nacht.
Und so plötzlich, wie alles begonnen hatte, war es auch schon vorbei. Der Falke Riskar war verschwunden.
„Si’Rakk?“ fragte Rüdiger schwach und das Nennen des Drachennamens ließ den allerletzten Rest des Falkenschattens endgültig verblassen, so wie das Krähen eines Hahnes unabänderbar einen neuen Morgen einleitet.
„Steh auf, mein Freund.“ Obwohl die Drachin leise gesprochen hatte, klang die Stimme in Rüdigers Schädel wie ein Kanonenschlag.
Der Mensch ließ seinen Blick über den Drachen vor ihm schweifen und ihm war schwindlig vor Glück und vor unsagbarer Angst.
Aus dem wuchtigen, mit goldschimmernden Schuppen besetzten Schädel wuchs ein Paar leicht nach hinten gebogener Hörner, ansonsten hatte das glatte Gesicht keinerlei Dornen oder Stacheln, wie man sie sonst so oft bei Drachen sehen konnte. Die elegante Schnauze war relativ lang, mit ausgeprägten Nüstern an ihrem Ende. Obwohl das Maul geschlossen war, standen die beiden oberen Reißzähne über, rasiermesserscharf und ungefähr so lang wie Rüdigers Unterarm. Von dem Wesen ging ein intensiver, aber angenehmer Duft aus: Der Drache roch nach geschmolzenem Eisen in Kombination mit nassem Leder, Honig und einer Spur von Schwefel. Ihren langen, peitschenähnlichen Schwanz hatte sie um ihre Beine gewickelt.
Behutsam legte Si’Rakk eine Pranke auf Rüdigers Schulter.
„Wie ich gesagt habe, Rüdiger. Du zitterst vor Angst am ganzen Leib. Und das, obwohl Du Dir immer gewünscht hast, dass dieser Augenblick eintreten würde.“ Si’Rakk lächelte auf den Menschen herab. „Jetzt stehe ich also vor Dir und ich stehe in Deiner Schuld, denn Du hast meinen Falkenkörper gesund gepflegt. Damit kann ich Dir die Frage stellen, die Du ehrlich beantworten musst. Doch bedenke Deine Antwort genau, denn Du wirst diese Frage nur einmal in Deinem Leben gestellt bekommen und egal, welche Wahl Du triffst, es wird immer der Augenblick kommen, an dem Du Dir wünschst, die andere Alternative gewählt zu haben.“
Rüdiger nickte stumm.
„Also, ich frage Dich hiermit: Möchtest Du auf meinen Rücken steigen und mit mir mitkommen, in meine Welt? Möchtest Du alles, und damit meine ich wirklich alles, was Dir hier auf dieser Welt, in diesem Leben etwas bedeutet hat, zurücklassen? Bevor Du antwortest, bedenke, es gibt auf keinen Fall für Dich eine Wiederkehr in diese Welt und bist Du erst einmal bei mir und meinesgleichen, dann musst Du Dich einfügen und bewähren in dieser Gesellschaft. Dir muss auch klar sein, dass Du als Mensch unter Drachen allein sein wirst und Du Dir Deinen Lebensunterhalt bei mir als mein Diener erarbeiten musst. Treffe nun Deine Wahl, aber überstürze nichts.“
Die Drachin streichelte behutsam mit ihrer Tatze Rüdigers Rücken hinab, einen wohligen, wärmenden Schauer durch seinen Körper schickend. „Am besten gehst Du zu Deinem Auto zurück, setzt Dich hinein und denkst in Ruhe darüber nach. Ich werde hier auf Dich warten. Du hast bis zum Morgengrauen Zeit.“
Doch der Mensch schüttelte den Kopf und sagte leise: „Da gibt es für mich nichts zu überlegen. Ich habe es Dir vor ein paar Wochen gesagt, als Du noch ein Falke warst. Es ist immer schon mein Herzenswunsch gewesen und ich stehe dazu. Ich möchte mit Dir mitkommen, auch wenn es meinen Untergang bedeutet. Ich muss nur noch mal zum Auto zurück und meine Papiere und den Geldbeutel holen.“
Si’Rakk schnaubte belustigt ein Rauchwölkchen aus ihren Nüstern: „Du solltest Deine Entscheidung wirklich überdenken, denn offensichtlich hast Du mich nicht ganz verstanden. Weshalb willst Du Dein Geld und Deine Papiere denn mitnehmen? In meinem Reich brauchst Du das ganz gewiss nicht mehr, und, wie gesagt, für Dich bedeutet das Mitkommen eine Reise ohne Wiederkehr in Deine bisherige Welt.“
Grinsend fügte sie hinzu: „Auch Deine Musiksammlung, die ich in Deiner Behausung gesehen habe, kannst Du nicht mitnehmen. Wie gesagt, Du solltest alle Aspekte überdenken. Es sind nicht nur Menschen, die Du zurücklässt.“
„Trotzdem, mein Entschluss steht fest.“ Si’Rakk hatte Rüdiger in seinem Stolz getroffen. Es war sein Naturell, zu einem einmal gefassten Entschluss zu stehen, ebenfalls eine Eigenschaft, die in der gegenwärtigen Gesellschaft unüblich war, gar ungern gesehen wurde. Schließlich könnte man sich ja dann auf etwas berufen...
„Wenn es denn Dein wahrer Wille ist, steig auf.“
Die goldene Drachin wandte sich um und legte sich nieder, so dass der Mensch leichter auf ihren Rücken klettern konnte.

Rüdiger war nie besonders sportlich gewesen und mit Fünfzig war er auch nicht mehr so gelenkig wie früher. Er benötigte sechs Versuche, doch schließlich schaffte er es, wobei Si’Rakk ein klein wenig mit ihrer Schnauzenspitze nachhelfen musste.
„In meiner Welt kannst Du es Dir allerdings nicht leisten, so ungeschickt zu sein“, knurrte sie. „Ich werde Dir wohl einiges beibringen müssen. Und nun halt Dich gut fest.“
Rüdiger saß knapp vor ihrem Flügel, ein Rückenzacken diente ihm als Rückenlehne. An dem Zacken vor ihm konnte er sich festhalten.
Ein Ruck lief durch den mächtigen Drachenkörper, als sich Si’Rakk auf ihre Pranken erhob.
Sie breitete ihre gewaltigen Schwingen aus und schwang sich kraftvoll in die Winternacht.
Obwohl sich der Wind wieder ein wenig gelegt hatte, spürte ihn Rüdiger mit der Macht einer geballten Faust über sich hinwegstreichen.
Trotz Winterkleidung fror es ihn schon nach kurzer Zeit. Der Flugwind fühlte sich an wie Nadelstiche in seinem Gesicht.
„Frierst Du sehr?“ Si’Rakks Stimme dröhnte in Rüdigers Kopf. „Gewöhne Dich daran, wir Drachen kommunizieren in der Regel telepathisch. Das ist vor allem beim Fliegen einfacher. Denke Dir einfach Deine Antwort.“
Der Mensch versuchte es und dachte: „Saukalt!“
Er schien diese Form der Verständigung zu beherrschen, denn augenblicklich erschien um ihn herum ein leicht bläulicher Schimmer, ähnlich einer Seifenblase, die in einem bestimmten Winkel das Sonnenlicht reflektiert. Die hohe Geschwindigkeit presste Rüdiger gegen den Rückenzacken und er fühlte sich wie auf einer Hochgeschwindigkeitsachterbahn. Er liebte dieses Gefühl. Auf einmal kippte die Welt unter ihm weg und er fühlte sich schwerelos und ohne jegliche Orientierung. Si’Rakk lachte, als sie hoch im Sternenhimmel einen großen Looping beschrieb: „Das hat Dir immer schon Spaß gemacht, nicht wahr? Ist Dir jetzt wenigstens warm geworden?“
Rüdiger jauchzte und fühlte sich trotz der Überschläge und der hohen Geschwindigkeit wohl und geborgen auf dem Drachenrücken. Das blasenähnliche Gebilde um Drache und Reiter sorgte für ausreichenden Schutz vor dem Flugwind und gewährleistete, dass der Mensch in dieser Höhe problemlos atmen konnte. Langsam wurde er von einem tiefen Schlaf übermannt.
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« Antworten #10 am: 16.Januar.2008, 22:01:14 »

Wie lange er geschlafen hatte, vermochte Rüdiger nicht zu sagen.
Si’Rakk hatte ihre Geschwindigkeit gedrosselt und sie flogen über sonnenbeschienene Bergmassive und saftig grüne Hochebenen. Die Sonne brannte von einem wolkenlosen Himmel herab, doch die Schutzblase, die zuvor für behagliche Wärme gesorgt hatte, schützte den Menschen nun vor der frühsommerlichen Hitze.
Ein großer, ebenfalls goldgeschuppter Drache kam ihnen entgegen und umkreiste sie. Bei dessen Anblick wich Rüdigers Gesichtsfarbe ein wenig. Nicht, dass er sich fürchte, doch war es etwas anderes, sich immer etwas sehnlich zu wünschen, als dann genau diesen Wunsch erfüllt zu bekommen. Ihm fielen die Worte eines englischen Lyrikers ein: „Be careful for what you wish, as this wish may become true.“ Wie Recht dieser Mann doch hatte! Andererseits schien von dem Neuankömmling keinerlei Gefahr auszugehen, sonst hätte Si’Rakk bestimmt schon reagiert. Wie aufs Stichwort hörte er ihre beruhigende Stimme in seinem Kopf: „Alles in Ordnung. Mach Dir keine Sorgen.“
Die beiden Drachen begrüßten einander respektvoll. Der Neuankömmling war deutlich größer und offensichtlich auch älter als Si’Rakk. Er gesellte sich zu ihnen und musterte Rüdiger mit funkelnden Augen, bis er schließlich fragte: „Wen bringst Du denn da an? Ist das am Ende Dein Schützling, auf den Du hast aufpassen müssen?“
„So ist es, Vater.“
Der ältere Drache schnaubte verächtlich. „Der? Wie soll ich denn von so was satt werden? Das ist doch gerade mal ein Appetithappen. Und abgesehen davon, der ist doch schon recht alt? Wenn Du schon einen Menschen in unsere Welt anschleppen musst, warum hast Du Dir dann nicht eine hübsche Jungfrau geschnappt? Du weißt doch, die Traditionen verlangen, dass...“
„Hör schon auf“, knurrte Si’Rakk gereizt. Ihr ging die konservative Einstellung ihres Vaters und vieler anderer Drachen schon lange gegen den Strich. Denn sie wusste genau, auch wenn es ihr Vater momentan nicht ganz ernst meinte, tief in seinem Inneren dachte er tatsächlich so. Sie wandte sich an Rüdiger: „Du musst meinen Vater entschuldigen. Er ist alt und es waren schon so lange keinen Menschen mehr hier zu Besuch.“
Der alte Drache schnaubte leise auf, deutete eine höfliche Verbeugung vor dem Menschen an und flog voraus.

Unter ihnen lag ein großer Bergsee, demjenigen, von dem sie zuvor aufgebrochen waren, nicht unähnlich. Er wurde von mehreren Wasserfällen, die von schroffen Felswänden ringsum stürzten, gespeist. Das Seewasser schien sehr tief und kalt zu sein. Aus diesem Grund war Rüdiger gar nicht darüber erbaut, als Si’Rakk, ihrem Vater folgend, in einen plötzlichen Sturzflug überging.
„Keine Sorge, Du wirst nicht nass.“
Der vertraute bläuliche Schimmer um Rüdiger herum nahm ein wenig an Intensität zu, als die Drachin in den See eintauchte und mit einigen kräftigen Schwimmzügen unter einem der Wasserfälle hindurchschwamm. Sie tauchte auf der anderen Seite wieder auf und sie befanden sich in einer großen Höhle, die von einem milchigen Licht schwach erhellt wurde.
Bis auf ein paar Spritzer war Rüdiger vollständig trocken geblieben.
„Da sind wir“, verkündete Si’Rakk, als sie in die Knie ging, um ihren Passagier absteigen zu lassen. Etwas wacklig auf den Beinen war Rüdiger nun doch froh, wieder festen Boden unter den Füssen zu haben, auch wenn er den Drachenritt sehr genossen hatte.
„Das ist mein Zuhause – und in Zukunft auch für unbestimmte Zeit Dein Wohnort“, sagte Si’Rakk und wandte ihre Aufmerksamkeit nun ihrem Vater zu. „Was gibt’s?“
„Kind“, begann dieser feierlich. „Du kennst unsere Gesetze. Du weißt, dass es niemandem gestattet ist, seinen Schützling mit in unsere Welt zu bringen. Du kennst die Gründe dafür und die Konsequenzen, die es für diesen Menschen hat.“
„Ja, das tue ich“, erwiderte die Drachin und in ihrer Stimme schwang ein wenig Trotz mit. „Doch habe ich meinen Schützling ausführlich darauf hingewiesen und er hat sich entschieden, mitzukommen. Er wird bei uns bleiben und sich in die Gesellschaft der Drachen integrieren.“
Der alte Drache schüttelte den Kopf: „Du weißt, dass das nicht so einfach geht. Zumindest musst Du unserem Rat diese Entscheidung überlassen. Hast Du darüber nachgedacht, was es für den Menschen bedeutet, wenn Dir die Erlaubnis versagt wird? Das wäre das Todesurteil für diesen Mann.“ Er warf einen leicht verächtlichen Blick auf den Menschen: „Nicht dass ich das sehr bedauern würde. Ich finde es ohnehin eine Schande, dass wir die Menschen vor sich selbst beschützen müssen.“
„Vater!“ Si’Rakk schnaubte zornig. „Sage dem Rat, dass wir kommen werden. Ich scheue nicht deren Urteil, denn ich weiß, dass nicht alle so konservativ denken wie Du.“
„Darum geht es doch gar nicht. Das hat nichts mit der Frage ob konservativ oder nicht zu tun, es ist alleine die Tatsache, dass selbst Du, meine Tochter, den Gesetzen dieses Reiches unterliegst und auch Du Deine Pflichten zu erfüllen hast. Ich werde jedenfalls den Rat informieren.“

Als der alte Drache die Höhle verlassen hatte, fragte Rüdiger verunsichert: „Hast Du jetzt Schwierigkeiten meinetwegen? Das wollte ich niemals, wenn ich gewusst hätte...“
„Sei still“, unterbrach ihn Si’Rakk schroff und führte ihn tiefer in das gewaltige Höhlensystem hinein. „Lass das mal alles meine Sorge sein. In der Zwischenzeit wirst Du jedoch genau das tun, was ich Dir sage. Hast Du mich verstanden? Es ist in Deinem eigenen Interesse. Nun komm mit!“
Sie gelangten in einen großen Höhlenraum, der ebenfalls von diesem diffusen Licht erhellt wurde. Der Raum war künstlich angelegt worden, offenbar hatten kräftige Drachentatzen den Felsen ausgehöhlt. Die mit Drachenfeuer geglätteten Wände völlig schmucklos. Zwar liebten Drachen Schätze jeglicher Art, erfreuten sich an dem Glitzern und Funkeln von Silber und Gold und allerlei Preziosen, doch waren ihre Behausungen stets sehr karg ausgestattet. In der hinteren Ecke des Raums befand sich ein Gebilde, das einem überdimensionalen Nest ähnelte: Es war ausgekleidet mit duftenden Gräsern und Blüten, mit Fellen verschiedener Säugetiere und mit Goldmünzen. Für einen Drachen wirkte Gold schlaffördernd und sorgte für dessen innere Ausgeglichenheit.
„Hier ist meine Schlafstatt. Ich werde daneben eine für Dich errichten, auf diese Weise bin gleich für Dich da, falls Du etwas brauchen solltest. Sag mir nur, ob Du mehr auf Gräsern oder auf den Fellen liegen möchtest. Zum Zudecken solltest Du Dir diese Bärenfelle hier nehmen, es wird hier nachts sehr kalt.“
Gerade als sie angefangen hatte, für Rüdiger ein eigenes Nest einzurichten, fielen zwei große Schatten auf die Drachin und die Menschen.

[Fortsetzung folgt]
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« Antworten #11 am: 18.Januar.2008, 10:40:51 »

„Majestät, bitte vergebt uns unser ungebührliches Eindringen in Euere privaten Gemächer.“
Am Eingang zu diesem Raum standen zwei Wesen, wie sie Rüdiger nie zuvor gesehen hatte. Sie standen aufrecht, doch erinnerten sie in ihrem Aussehen an Pferde. Sie waren von der Schnauze bis zu den Beinen, die in gespaltene Hufe übergingen, mit schwarzgrün schillernden Schuppen besetzt. Seidige Mähnen liefen wie flüssiges Silber ihre Rücken hinab und aus denselben feinen Haaren waren ihre Fesselbehaarung und ihre feurigen Schweife. Aus ihren Schädeln wuchs jeweils ein Paar gekrümmter Hörner, dem Gehörn einer Ziege nicht unähnlich. An einen Ziegenbock erinnerten auch ihre feinen Kinnbärtchen. Sie waren mit Lanzen bewaffnet und hatten die Spitzen auf den Menschen gerichtet.
„Was soll das, Tavvla und Tabbla! Wie könnt Ihr es wagen, hier ungefragt einzudringen? Und was fällt Euch eigentlich ein, meinen Gast mit Waffen zu bedrohen?“
In den Nüstern der Drachin glühte es rötlich auf, sie bebte förmlich vor Zorn.
Die beiden Kyryns verbeugten sich ehrfürchtig vor Si’Rakk, hielten jedoch weiterhin mit den Lanzen Rüdiger in Schach.
Dem Menschen standen Schweißperlen auf der Stirn. Offensichtlich hatte Si’Rakks Vater diese Soldaten geschickt, um ihn... ja, was... gefangen zu nehmen oder gar zu töten?
Er lag nicht gar so falsch mit seiner Vermutung.
„Hat Euch mein Vater geschickt?“ donnerte die Drachin. „Ich dachte eigentlich, meine persönliche Leibgarde wäre mir treu ergeben und noch nicht diesen altmodischen Wertevorstellungen erlegen, wie sie so manche Drachen hier an den Tag legen. Ich sehe, dass ich mich in Euch getäuscht habe.“
„Majestät“, begann das Kyryn namens Tavvla vorsichtig. Seine Stimme war wohlklingend und weich. „In der Tat war es nicht Euer Vater, der uns rief. Alleine Euer Gesetz, dem auch Ihr selbst verpflichtet seid, Majestät, zwingt uns zu dieser bedauerlichen Maßnahme. Ihr selbst habt das Gesetz erlassen zum Wohle des Drachenvolkes, aber auch zum Wohle der Menschen, die Ihr behütet, dass niemals einer Eurer Schützlinge in diese unsere Welt gelangen darf.“
„Das ist wohl wahr“, grollte Si’Rakk. Sie beruhigte sich langsam wieder. „Doch dieser Mensch ist mein persönlicher Schützling und er kam aus freien Stücken zu mir. Ihm ist bekannt, dass er niemals wieder zu seinesgleichen zurückkehren wird. Er wird hierbleiben und lernen, unter und mit Drachen zu leben. Es ist sein und auch mein ausdrücklicher Wunsch.“
„Das mag alles sein, oh edle Herrin“, erwiderte das Kyryn, doch dessen gelbgrüne Augen waren hart wie Diamant. „Doch muss - auch aufgrund Eures Gesetzes - der Ältestenrat erst zustimmen. Bis dies soweit ist, müssen wir den Menschen in Gewahrsam nehmen. Auch in seinem eigenen Interesse. Denn solange er nicht offiziell vom Rat als Mitglied der Drachengemeinschaft anerkannt ist, gilt er als Eindringling und könnte von jedem Drachen ohne weiteres vernichtet werden. Ich appelliere also an Eure Vernunft, Majestät, und auch an Eure Fürsorge für diesen Menschen, händigt ihn uns aus, bis der Rat seine Entscheidung getroffen hat.“
Rüdiger hatte atemlos zugehört; vor allem, Si’Rakk, sein Schutzengel, wurde mit Majestät tituliert? Ihm war nicht wohl in seiner Haut. Was würde nun geschehen? Es schien, als würde die Palastwache nicht mehr den Befehlen ihrer Königin - oder welches Amt auch immer Si’Rakk bekleidete - gehorchen. Er zuckte zusammen, als sich die schwere, schuppige Hand des anderen Kyryns auf seine Schulter legte.
„Tavvla, mein Leibwächter und Diener, hat Recht“, lenkte Si’Rakk schließlich ein und blickte ihrem Schützling in die Augen. „Es ist in der Tat das Gesetz, dass ich vor langer Zeit selbst erlassen habe und selbst ich muss mich dem beugen. Dir wird kein Leid geschehen, dafür verbürge ich mich. Ich bitte Dich nun, mit Ihnen mitzugehen und zu gehorchen, es ist zu Deinem eigenen Schutz. Sei unbesorgt. Ich werde sofort den Rat einberufen und dann bist Du hier ein freier Mensch.“
Si’Rakk lehnte sich vor und leckte Rüdiger zärtlich das Gesicht. „Hab keine Angst, alles wird gut.“
Sie wandte sich an die Wächter: „Ihr beide bürgt mit Euren Leben für sein Wohlergehen. Ihr werdet ihn gut behandeln, er ist Gast und kein Gefangener. Habe ich mich da klar ausgedrückt?“
Die beiden Kyryns verneigten sich, doch die Blicke, die sie dabei dem Mann zuwarfen, ließen ihn nichts Gutes ahnen. Es war offensichtlich, dass diese beiden Geschöpfe Menschen hassten. So verwunderte ihn es auch nicht weiter, als sie ihm vor der Höhle seine Hände banden und Tavvla höhnisch in sein Ohr flüsterte: „Du tust besser, was wir Dir sagen, Mensch.“ Aber es beruhigte ihn auch nicht gerade.
Rüdiger fiel auf, dass sie einen anderen Weg aus Si’Rakks Wohnhöhle eingeschlagen hatten als bei seiner Ankunft. Ihm blieb es erspart, noch einmal unter dem Wasserfall hindurch zu tauchen. Die beiden Kyryns hätten mit Sicherheit nicht darauf geachtet, ob er dabei trocken
blieb oder nicht. Er hatte auch das dumpfe Gefühl, dass ihnen der Befehl Si’Rakks bezüglich seiner Behandlung ziemlich gleichgültig war.
Sobald er langsamer wurde oder gar stehen bleiben wollte, um sich zu orientieren, trieben sie ihn zur Eile an, indem sie ihn mit den Lanzenspitzen piekten.
Sie mussten Stunden gegangen sein, zumindest kam es Rüdiger so vor. Er hatte in diesem Drachenreich jegliches Zeitgefühl verloren, seine Armbanduhr war ohne Funktion.
Schließlich jedoch hießen ihn die beiden Wächter, stehen zu bleiben.
„So, da ist fürs erste Dein Quartier, Mensch. Etwas Besseres können wir Dir nicht bieten. Es kommen sonst nie Gäste hierher.“
Die Art, wie das Kyryn dieses Wort betonte, jagte Rüdiger einen neuerlichen Schauer über den Rücken.
Tavvla zeigte auf eine kleine Höhle, eher eine Nische, die in den Felsen gegraben worden war. Sie bot gerade einmal einem Menschen Platz.
„Du hast großes Glück, dass Du der Schützling unserer Königin bist, denn würde es nach mir gehen oder den anderen Drachen, dann wärst Du jetzt woanders.“
Mit diesen Worten wurde der Mann grob hineingestoßen. Die Kyryns verschlossen den Hohlraum mit einem großen Stein, den sie unter Aufbringung ihrer ganzen Kraft davor rollten. Zum Glück blieb ein schmaler Spalt bestehen, durch den ein paar Sonnenstrahlen und Luft zum Atmen dringen konnten.
Rüdiger hörte, wie Tabbla und Tavvla sich unweit seines Gefängnisses niederließen zum Wachehalten.
Die Zeit kroch über den gefangenen Menschen dahin wie Würmer über Stein und immer wieder versuchte er über seine Situation nachzudenken. Warum hatte ihn der Drache mit in diese Welt genommen, wenn er hier doch gar nicht sein dürfte? Weshalb hatte ihm Si’Rakk ihr königliches Geblüt verschwiegen? Doch vor allem, was würde nun passieren? Welchen Einfluss hatte dieser Ältestenrat und welche konservativen Kräfte waren da zugange?
Dass er einfach keinen klaren Gedanken fassen konnte, lag auch an den Gesprächsfetzen, die er immer wieder aufschnappte:
„…habe keine Lust, die ganze Nacht hier…“, „und wenn wir ihn einfach verschwinden lassen“, „hoffentlich hingerichtet“…
Rüdiger fröstelte, obwohl es in der Höhle stickig und warm war.
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« Antworten #12 am: 18.Januar.2008, 10:41:45 »

Die roten Strahlen der untergehenden Abendsonne, die plötzlich in die Dunkelheit des Gefängnisses drangen, als der Felsen ein wenig zur Seite geschoben wurde, blendeten Rüdiger.
„Raus! Besuch für Dich, Mensch“, sagte Tavvla und der Mann atmete erleichtert auf.
„Gott sei Dank. Ich dachte schon, die beiden gehen mir ans Leder.“ Rüdiger widerstand dem Impuls, die Drachin zu umarmen.
„Komm jetzt, wir sind spät dran. Der Ältestenrat wartet“, sagte sie knapp und knurrte ungeduldig auf, als es mit dem Aufsteigen nicht so recht klappte. Schließlich aber saß Rüdiger sicher auf ihrem Rücken und sie stieß sich kraftvoll ab.
Während des ganzen Fluges wechselten sie kein Wort miteinander. Si’Rakk hing ihren Gedanken nach. Was würde der Ältestenrat sagen? Sie war zwar Königin, aber dem Entschluss des Rates hatte auch sie sich zu unterwerfen. Zweifellos würde man sie nach dem Warum fragen. Aus welchem Grund hatte sie den Menschen, ihren Schützling, hierher gebracht? Eigentlich konnte sie sich diese Frage selber nicht beantworten. Doch spielte das überhaupt noch eine Rolle? Er war jetzt hier und zurückschicken konnten sie ihn nicht.
Sie waren auf einem Hochplateau gelandet, als die Sonne endgültig hinter dem Horizont verschwand. Der breite Tunnel, den sie schweigend nebeneinander entlangschritten, war von einem ähnlich milchigem, verhangenem Licht erfüllt wie Si’Rakks Höhle.
Als sie in die Versammlungshöhle traten, verschlug es Rüdiger den Atem: Die Ausmaße dieser Höhle waren unvorstellbar. Der Mensch vermutete, dass man hier den gesamten Münchner Flughafen mit all seiner Infrastruktur problemlos hätte unterbringen können. Die Höhlendecke war so fern, dass sie Rüdiger nicht erkennen konnte. Intensiver Reptiliengeruch füllte Rüdigers Nase und dann dauerte es eine Weile, bis sein Gehirn verarbeitete, was er sah: Gewaltige, schimmernde und wogende Leiber im Zentrum der Höhle.
Zahllose Schuppen glitzerten bronzefarben und golden, silbern und kupfern in dem flackernden Licht der Fackeln, die man aufgestellt hatte und die den Raum ein wenig erhellten. Vier rotglühende Augenpaare waren auf ihn gerichtet und Si’Rakk begab sich zu den anderen vier Drachen. Sie bedeutete dem Menschen mit einer Bewegung ihrer Tatze, zu bleiben wo er war und zu schweigen.
Als sie ihren Platz zwischen den alten Drachen einnahm, verneigten sie sich ehrfürchtig vor ihr. In einem der goldenen Drachen erkannte Rüdiger Si’Rakks Vater.
„Verzeiht meine Verspätung“, begann Si’Rakk gemessen. „Aber wir wurden unterwegs aufgehalten.“
Die anderen Drachen nickten gnädig und ihre ledernen Schwingen raschelten.
„Wollen wir uns kurz fassen.“ Ein alter Drache, dessen Schuppen die Farbe alter Kupfermünzen hatten, war vorgetreten. Doch trotz seines offensichtlich hohen Alters klang seine Stimme fest und kraftvoll.
„Majestät. Ihr selbst habt das Gesetz, wenngleich auch auf unser Anraten hin, erlassen, wonach keiner der Schützlinge des Drachenvolkes in unser Reich gelangen darf. Es dient zum Schutze der Menschen aber auch zu unserem eigenen. Man stelle sich vor, wenn jeder hier, der das Leben eines Menschen verfolgt, seinen Schützling herholen würde? Was hat Euch also bewogen, ausgerechnet diesen Menschen hierher zu bringen?“
Si’Rakk ließ sich mit ihrer Antwort einige Augenblicke Zeit. Schließlich sagte sie mit fester Stimme: „Ich bin mir sehr wohl über das Gesetz und dessen Sinn und Zweck im Klaren. Doch hier handelt es sich nicht um einen gewöhnlichen Schutzbefohlenen. Von seiner Geburt an stand er unter unserer Beobachtung, nicht allen Menschen wird diese Aufmerksamkeit zu teil. Als ich erfahren habe, wie sich dieser Menschenmann entwickeln würde, habe ich persönlich die Wache über ihn übernommen und ihn durch sein Leben geleitet. Er ist anders als die Menschen, die wir normalerweise beobachten und manchmal in ihre Geschicke zu ihrem Selbstschutz eingreifen.“
„Inwiefern?“ grollte der goldene Drache, Si’Rakks Vater. Er war nun ebenfalls hervorgetreten. „Mensch ist er, und das alleine zählt. Wir hätten uns niemals um dieses Pack kümmern sollen, was brachten uns die Zweibeiner schon in der Vergangenheit? Sie erschlugen Drachen und nun erschlagen sie einander gegenseitig. Sollen sie. Irgendwann wird die Welt von diesem Abschaum befreit sein, wenn sich die letzten beiden Menschen ihre Schädel gespalten haben. Ich war von Anfang an gegen die Idee, über diese Kreaturen zu wachen.“ Seine Augen funkelten zornig und sein Schweif peitschte hin und her.  
„Vater, diese Diskussion hatten wir schon. Eure konservative Einstellung ist bekannt und hat nichts mit Rüdiger zu tun, den ich bei mir behalten werde.“
Si’Rakk hatte bewusst Rüdigers Namen in die Debatte eingebracht. Auf diese Weise war ihre Verbundenheit zu dem Menschen manifestiert und der Ältestenrat konnte diese Tatsache nicht mehr so ohne weiteres ignorieren.
„Das hat nichts mit konservativ zu tun“, schnaubte der Goldene. Er hatte seine Flügel gespreizt: „Es geht hier darum, dass ein Mensch nichts bei Drachen zu suchen hat. Und dass Drachen sich überhaupt nicht um Menschen zu kümmern haben. Denn dann würden sich solche Probleme hier überhaupt nicht ergeben. Ich plädiere dafür, diesen Zweibeiner zu töten. Weil Du meine Tochter bist und Du für diese Kreatur empfindest, versichere ich Dir, dass er keinerlei Schmerzen erleiden wird. Unser Heiler wird ihm einen Trank verabreichen können, der...“
„Das reicht nun, Lord Nafarion.“ Die Stimme des kupferfarbenen Alten war leise, doch sie ließ keinen Widerspruch zu. Augenblicklich beruhigte sich der goldene Drache wieder und faltete sorgsam seine Flügel über seinen Rücken. Er senkte seinen Kopf. „Was sagt Ihr anderen?“
Ein etwas jüngerer, silbern geschuppter Drache ergriff das Wort: „Majestät, Ihr erwähntet, dass dieser Menschenmann anders wäre als die anderen. Würdet Ihr das bitte genauer erläutern?“
„Ich denke, er ist einer von uns.“
Die plötzliche absolute Stille ließ Rüdiger aufschrecken. Zwar konnte er von seinem Standort aus jedes Wort des Disputs hören, doch die Bedeutung Si’Rakks letzter Äußerung erschloss sich ihm nur langsam. Das konnte konnte doch nicht sein?
Dieser Meinung waren auch die anderen Drachen. So plötzlich, wie die Stille eingetreten war, war die Versammlungshöhle nun erfüllt von Unruhe.
„Das kann nicht sein!“, „Ihr müsst Euch irren!“, „Beweise! Was zählt sind Beweise!“
Die alten Drachen schlugen mit ihren Flügeln, Augen funkelten und sie riefen durcheinander. Der Älteste konnte nur mit Mühe und Not einigermaßen für Ruhe sorgen.
„Majestät. Habt Ihr dafür Beweise?“
Si’Rakk antwortete nicht, sondern entfernte sich einige Schritte von den übrigen Drachen. Sie hatte ihre Vordertatzen erhoben und die Luft schien plötzlich Funken zu sprühen. Es roch nach purer Energie, metallisch und streng. Etwas manifestierte sich nun in der Luft vor der Drachin, nahm eine viereckige Form an. Es schimmerte dunkelblau und golden. Rüdiger konnte von seiner Position nicht erkennen, was es war.
Erst als Si’Rakk diesen Gegenstand nun scheinbar aus der Luft pflückte, konnte er es erkennen und ihm verschlug es den Atem: Es war ein Buch - und es kam ihm seltsam bekannt vor. Schweißperlen traten auf seine Stirn.

Die goldene Drachin schlug das Buch auf und legte es feierlich vor die anderen Drachen auf den Boden. Sofort erhob Ihr Vater seine Stimme: „Und? Was besagt das schon? Ein paar Geschichten, von einem Menschen verfasst, der darin seine Schwärmerei für Drachen zum Ausdruck bringt. Weshalb sollte er wegen dieser Zeilen einer von uns sein, Tochter?“
Si’Rakk knurrte: „Hast Du seine Geschichten jemals gelesen, Vater? Das sind nicht einfach nur Geschichten. Als ich sie das erste Mal gelesen habe, fühlte ich, dass dieser Mann weitaus mehr ist, als er wohl selber weiß. Ich gab diese Geschichten anderen von uns zum Lesen und sie empfanden das Gleiche wie ich. Nicht ohne Grund hatten sie daraufhin, so wie ich auch, ihm ihre Hilfe angeboten. Ich habe für ihn ein paar Illustrationen gefertigt, da mir dieses Buch geeignet schien, eine Brücke zwischen unserem Volke und dem Menschengeschlecht zu schlagen. Doch seine Geschichten sind mehr als ein Ausdruck seiner Verehrung für uns. Man kann in seinen Worten fühlen, dass er anders denkt als die übrigen Menschen. Er ist keiner von ihnen, er ist unser Bruder, wenngleich auch nicht im Blute. Doch leider hat er immer weniger geschrieben und er zog sich zurück. Er schien das Interesse an Drachen verloren zu haben. Aus diesem Grund habe ich den Menschen hierher gebracht. Es war sein freier Wille, alles aufzugeben, um mit mir zu kommen. Auch daran konnte man sehen, dass er etwas Besonderes ist. Zwar behaupten viele, sie würden alles aufgeben, nur um bei uns sein zu dürfen, doch Rüdiger war der erste seit so vielen Jahren, dem es wirklich Ernst war damit.
Ich weiß, dass ich gegen mein eigenes Gesetz verstoßen habe. Doch ist Rüdiger in meinen Augen mehr als nur ein Mensch und daher soll er an meiner Seite sein. Er wird sich in die Drachengesellschaft einfügen, ich selber werde ihn unterweisen in allem, was für sein Leben hier von Belang ist. Rüdiger wird nicht bevorzugt behandelt werden. Er wird hier als mein Diener leben und sich damit seinen Lebensunterhalt erarbeiten. Er wird sich unseren Gesetzen und Gebräuchen unterwerfen und sich unseren Anweisungen fügen. Fehlt er, so wird er genauso bestraft wie einer von uns. Mehr habe ich dazu nicht zu sagen.“

Der Älteste hob bedächtig das Buch auf, klappte es zu und strich behutsam mit seiner Tatze über den blauen Einband. „Wohl gesprochen, Majestät. Wir werden Eure Worte mit denen unserer Interessen abwägen und unsere Entscheidung treffen. Wartet mit dem Menschen zusammen außerhalb dieser Höhle. Ich werde Euch holen lassen, wenn es soweit ist.“
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« Antworten #13 am: 20.Januar.2008, 09:11:13 »

„Das war ganz schön knapp, das Ergebnis“, sagte Rüdiger, als er auf allen Vieren durch ihren gemeinsamen Schlafraum rutschte und dabei den Boden schrubbte.
Er warf der Drachin einen zaghaften Blick zu. Ihre Mine war wie versteinert.
Drei Tage waren vergangen, seit der Rat sein Urteil gefällt hatte und Rüdiger bei Si’Rakk als ihr Diener und Lehrling bleiben durfte. Doch in dieser Zeit hatte sie nur das Nötigste mit ihm gesprochen und ihm seine Aufgaben, die hauptsächlich in Putzdiensten und im Holen von Wasser und dergleichen bestanden, übertragen. Si’Rakk schien von einer inneren Unruhe getrieben, doch der Mensch kam nicht dahinter, was die Drachin so belastete. Er konnte sich nicht vorstellen, dass es die doch recht knappe Entscheidung des Rates war, die sie quälte. „Was ist los? Irgendwas scheint Dich zu quälen.“
Si’Rakk schnaubte ein kleines Rauchwölkchen aus. „Bisweilen fragen auch wir Drachen uns, ob unser Handeln richtig ist. Als Königin muss ich in erster Linie an die Belange meines Volkes denken. Ich frage mich nun selbst, ob es richtig war, Dich hierher zu bringen. Auch wenn Dein Bleiben nun durch den Ratsentscheid legitimiert worden ist, so wirst Du immer in den Augen der meisten nur als Mensch unter Drachen gelten.“
„Naja, was ist daran so schlimm?“ fragte Rüdiger leichthin. „Das ist ja schließlich genau das, was ich mein ganzes Leben wollte. Und diesen Wunsch hast Du mir erfüllt. Dafür werde ich Dir auf ewig dankbar sein!“
„Aber verstehst Du denn nicht?“ Si’Rakk schüttelte ihre Flügel. Das machte sie immer, wenn sie beunruhigt war. „Die Entscheidung des Rates war deshalb so knapp, weil die Ältesten auch die Probleme sehen, die auf Dich zukommen könnten. Auch wenn viele von uns über das Leben von Euch Menschen wachen, Eure Schutzengel sind, wie Du so nett gesagt hast, so machen das etliche nur aus einem Pflichtgefühl heraus und nicht als Überzeugung. Es gibt genügend Drachen, die zwar ihren Menschen auf Deiner Welt vor Unheil zu bewahren suchen, ihn hier aber sofort in Stücke reißen würden. Du musst wissen, wir gehen dieser Aufgabe nicht nach, weil wir Eure Art lieben, sondern weil wir die Fehler korrigieren müssen, die Ihr in Eurer Unvollkommenheit immer wieder zum Schaden von Euch und Eurer Umwelt begeht. Rüdiger, ich mache mir Sorgen um Dein Wohlergehen.“
Si’Rakk blickte ihm tief in die Augen: „Ich will nicht, dass Dir etwas geschieht, denn dazu habe ich Dich einfach viel zu gerne.“
„Ich Dich auch. Ich hoffe nur, Du hast deswegen keine Schwierigkeiten. Ich könnte mir das nie verzeihen, dass man Dir wegen mir Leid antun würde.“
Dass auch Rüdigers Schicksal in diesem Fall besiegelt wäre, behielt die Drachin lieber für sich. Stattdessen drückte sie ihn zärtlich an ihre geschuppte Brust und hüllte ihn in ihre Schwingen ein.
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« Antworten #14 am: 20.Januar.2008, 09:13:00 »

Die nächsten Tage verliefen ohne nennenswerte Ereignisse.
Rüdiger durfte selbständig die Gegend um Si’Rakks Behausung erkunden, freilich nicht ohne der Ermahnung auf der Hut zu sein, da das Umherklettern in den Felsen nicht ganz ungefährlich war.
Wenn die Drachin ausging, hatte der Mensch sie zu begleiten. Sie zeigte ihm den Markt, wo sie alles kaufte, was sie selbst nicht erjagen konnte, und sie führte ihn bei den Drachen der Gesellschaft ein.
In ihrer Höhle hatte Rüdiger aufzuräumen, die Nester dann und wann mit frischen Fellen auszulegen und kleinere Handwerksarbeiten auszuführen. Eine weitere Aufgabe waren Botengänge aller Art.
Auch wenn doch etliche Drachen sich eher verächtlich über den Menschen äußerten, fühlte sich Rüdiger immer heimischer in dieser Welt und er war glücklich. In den kühlen Nächten durfte er sich gegen Si’Rakks Flanken schmiegen.
In seiner Welt war Rüdiger nie besonders sportlich oder auch handwerklich begabt gewesen, doch der Aufenthalt hier stählte den Körper des Fünfzigjährigen.
Auch wenn es ihm anfangs schwer gefallen war, auf viele Annehmlichkeiten der modernen Zivilisation zu verzichten, hatte er sich hier insgesamt gut eingelebt. Immerhin musste er nicht auch Fleisch oder Fisch roh verzehren wie es die anderen Drachen taten.
Er war gerade dabei, für das Abendessen einen Berg Kartoffeln zu schälen, als Si’Rakk ihn zu sich rief. „Wenn Du damit fertig bist, habe ich noch eine Bitte an Dich.“ Sie lächelte ihn an. „Ich weiß, wie sehr Du Erdbeeren magst. Nun, hier in dieser Welt sind sie weitaus seltener als auf Deiner Welt, daher sehr kostbar und teuer, aber das soll keine Rolle spielen. Mir ist zu Ohren gekommen, dass auf dem Markt eine frische Ernte eingetroffen ist.“
„Wieviel soll ich holen?“ Erdbeeren – dafür hätte Rüdiger töten können.
„Soviel Du auch immer essen kannst. Hier, nimm ein wenig Gold. Und trödle aber bitte nicht zu lange herum. Ich will pünktlich zu Abend essen.“

Mittlerweile war es schon das sechste Mal, dass Rüdiger das große Stadttor passierte, nur zuvor war er immer in Begleitung Si’Rakks gewesen.
Die gewaltigen hohen Steinmauern der Gebäude bedrückten ihn stets aufs Neue. In seiner Welt war er ein Mann der Großstädte gewesen, er schätzte die Skylines von Frankfurt und New York, doch hier war alles anders. Die mehr oder weniger schmucklosen Bauten waren aus groben Felsbrocken, die mit Drachenfeuer, das sogar Steine zum Schmelzen bringen konnte, verschweißt wurden, errichtet. Die Hauptstraßen, die sternförmig von den vier Stadttoren auf den Marktplatz zuliefen, waren breiter als die Autobahnen aus Rüdigers Heimat. Kein Wunder, mussten sie jedoch Drachen jeglicher Größe das Fortkommen ermöglichen. Um ihn herum herrschte Stimmengewirr, das Schaben von elfenbeinernen Krallen auf dem Straßenpflaster und das Rascheln von Schwingen und der übrige Lärm, wie er für eine Stadt so typisch ist. Des Öfteren wurde Rüdiger wütend angezischt oder angeschnaubt, wenn er gegen einen Drachen rempelte – oder er von einem der so viel größeren Wesen beinahe über den Haufen gerannt wurde. Man starrte ihn an. Manche Drachen fanden es unverantwortlich, dass dieser Mensch hier alleine herumspazierte, andere fanden es grundsätzlich falsch, dass dieser Mann überhaupt in ihrer Welt war. Aber alle wussten, wer er war und zu wem er gehörte.
Ein Paar gelb glitzernder Augen hatte den Menschen ins Visier genommen, doch bevor der Mensch überhaupt bemerkte, dass man ihn beobachtete, verschwand der anthropomorphe Beobachter in einer dunklen Seitengasse. Er rieb sich nachdenklich sein Kinnbärtchen und sein feuriger Schweif peitschte erregt hin und her.

„Und, mittlerweile gut eingelebt?“ Die Stimme des schwarz-rot geschuppten Drachens donnerte in Rüdigers Kopf, als dieser ihm den Lederbeutel prall gefüllt mit Erdbeeren reichte. Der Mensch mochte diesen Drachen. Er war der einzige Händler auf diesem Markt, der ausschließlich Gemüse, Salat und Obst feilbot. Rüdiger fragte sich immer, ob dieser Drache vielleicht sogar Vegetarier war.
„Ja, auch wenn mir vieles noch sehr fremd ist, Großmächtiger.“
Der Händler lächelte und entblößte dabei seine scharfen Zähne: „Lass das Großmächtiger weg. Hat man Dir nicht gesagt, wie ich heiße? Man nennt mich Sarankant. Nun aber solltest Du nach Hause gehen. Mich wundert es nur, dass Dich Si’Rakk alleine losgeschickt hat. In dieser Stadt gibt es auch sehr viel lichtscheues Gesindel. Und dann“, der Drache senkte seine Stimme ein wenig, „gibt es hier genügend Artgenossen, die einen abgrundtiefen Hass auf Menschen haben.“
Er gab Rüdiger einen sanften Klaps mit seiner Tatze auf den Rücken. „Pass auf Dich auf. Hier, noch eine kleine Wegzehrung für Dich.“ Er reichte ihm einen Apfel, der die Größe eines kleinen Kürbisses hatte.
Das Obst und Gemüse war hier weitaus größer und viel schmackhafter als in der Menschenwelt.

„Haltet den Dieb!“
Der Ruf hallte durch die Straßen. Rüdiger achtete nicht darauf und bahnte sich seinen Weg durch das Gedränge, bis er gegen ein Hindernis stieß. Eine geschuppte Hand griff nach ihm und Rüdiger blickte in das grimmige Gesicht eines Silberdrachens. „Wen haben wir denn da?“
Die Stimme war drohend wie Donnergrollen am fernen Horizont. Es war der etwas jüngere Drache, der im Ältestenrat gesprochen hatte. „Wohin so eilig? Und wo ist Eure Majestät, Si’Rakk? Weiß sie, dass Du hier bist?“
„Haltet den Dieb!“
„Ach, so ist das?“ Die gelben Augen des Drachens verengten sich zu Schlitzen. „Der Mensch, der Schützling unserer Königin, ein Dieb? Nun, auch wenn Du ihr Schützling bist, wird Dich das nicht vor Bestrafung retten.“
Zornig schnaubend riss er den Mann von den Füssen und schüttelte ihn wie eine Ratte. Dabei ließ Rüdiger den Beutel fallen und die Erdbeeren kullerten über den Boden, die meisten wurden sofort zermantscht von der herandrängenden Menge.
„Haltet den Dieb!“ Immer wieder tönte dieser Ruf durch die Menge.
„Aber…aber…ich habe doch nichts gestohlen!“ rief Rüdiger verzweifelt.
„Und was ist das?“ fragte der Silberdrache und kickte mit seiner rechten Vordertatze den Beutel hoch, während er eine Kralle seiner anderen Tatze grob gegen Rüdigers Adamsapfel drückte.
„Das…habe ich gekauft, bei dem Kaufmann. Bei dem edlen Drachen Sarankant. Ich schwöre es!“
„Schwören! Kannst Du das beweisen?“ Erneut wurde Rüdiger grob durchgeschüttelt.
„Ja, kann ich. Bitte lasst mich runter.“
Der Silberdrache schnaubte: „Wenn Du fliehst, werde ich Dich augenblicklich einäschern, verstanden? Wo ist nun der Beweis Deiner Unschuld?“
Völlig automatisch griff Rüdiger in seine Tasche – nur um sich daran zu erinnern, dass er ja nicht mehr in seiner Welt war, in der für seinen Einkauf einen Kassenbon erhalten hätte.
„Ach du Schande“, murmelte er. Ihm traten Schweißperlen auf die Stirne.
„Nun?“ Der Silberne hatte seine Schnauze auf Rüdigers Gesichtshöhe gebracht und schnaubte ihm den heißen Atem ins Gesicht. In seinen Nüstern schimmerte es orangerötlich.
„Ich… ich habe doch keinen Beweis. Aber fragt Sarankant. Er kann es bestätigen, dass ich bei ihm Erdbeeren gekauft habe. Und an einem anderen Marktstand war ich gar nicht!“
„Er spricht die Wahrheit!“
Der schwarz-rote Drache bahnte sich den Weg durch die Menschen und seine Flügel klappten aufgeregt. „Bei den Göttern! Er ist unschuldig. Er hat nicht gestohlen. Zumindest nicht von mir. Diese Erdbeeren hat er bei mir käuflich erworben.“
„Dann hat er woanders gestohlen!“ tönte es aus der Menge.
„Sprich, Mensch!“ Der silberne Drache hatte den Menschen wieder hochgehoben und hielt ihn nun mit eisernem Griff am Nacken wie ein Kätzchen. Rüdiger strampelte und versuchte verzweifelt, sich zu befreien. Er hatte keine Chance. „Wen hast Du also beraubt? Ich verliere langsam die Geduld. Sollen wir Dich erst in unserem Kerker verhören?“
„Aber, ich habe doch gar nicht…“, begann Rüdiger, doch nun riss der Händler das Wort an sich.
„So glaubt ihm doch. Lord Silberfang! Ihr als Mitglied des Ältestenrates, Ihr werdet doch sicher in sein Herz blicken können. Selbst ich kann das und ich bin nur ein einfacher Händler. Dieser Mensch ist redlicher als so mancher unserer Artgenossen hier!“
„Ja, lest in seinen Gedanken!“, „Unsinn, er ist ein Dieb!“, „Weg mit diesem Menschengezücht!“, „Ja, tötet ihn, dann ist Ruhe!“, „Gebt ihn mir, ich weiß, wie ich mit Dieben zu verfahren habe!“
Der Mob schrie durcheinander.
Ein Drachenpferd löste sich aus der Menge, darauf bedacht, keine Aufmerksamkeit zu erwecken. Die Augen des Kyryns funkelten. Er lief genauso ab, wie es sich das vorgestellt hatte. Nur hatte er nicht damit gerechnet, dass dies so bald schon der Fall sein würde. Nun würden sie den Menschen verurteilen und hinrichten. Der erste und einzige Mensch in dieser Drachenwelt würde bald nicht mehr sein als ein Häufchen Asche. Und Si’Rakk würde die längste Zeit Königin gewesen sein. Tabbla schlug sich in eine Nebenstraße und begab sich rasch stadtauswärts.

Rüdiger konnte seinen Blick nicht von diesen schrecklichen gelben Reptilienaugen, die wie Sonnen sich direkt in seine Seele brannten, abwenden. Er wurde durchleuchtet, durchforstet, sein Innerstes nach außen gekehrt und er fühlte sich hilflos.
Schließlich brummte Silberfang: „Wahrlich, ich kann keine Schuld in ihm erkennen. Ich werde ihn laufen lassen.“
Er wandte sich an Rüdiger, nachdem er ihn abgesetzt hatte: „Und Du, Mensch, verschwinde. Und lasse Dich nicht mehr in dieser Stadt blicken. Sie ist für Menschen tabu. Du hast genug Unheil angerichtet mit Deinem Kommen. Geh und kehre niemals wieder!“
„Nein!“ keifte eine Drachin aus dem Mob. Ihre Stimme klang hysterisch. „Merkt Ihr denn nicht? Er hat Euch verhext. Er hat seine Gedanken vor Euch verschleiert, damit Ihr die Schwärze seiner Menschenseele nicht sehen könnt. Mensch ist er und er ist gefährlich für das Drachenvolk. Tötet ihn, bevor es zu spät ist!“
Die umstehenden Drachen griffen diese Aufforderung zu Rüdigers Entsetzen auf. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Es waren Tränen der Verzweiflung, aber auch der Wut und Enttäuschung. Diese Drachen verhielten sich nicht anders als die Menschen damals in seiner Welt. Offensichtlich war ein wütender Mob in jeder Gesellschaftsstruktur gleich gefährlich und leicht zu manipulieren. Es war klar, wer auch immer ihn loswerden wollte, steuerte geschickt die aufgebrachten Drachen. Er konnte förmlich fühlen, wie der silberne Drache sich nicht länger gegen das Urteil der Menge sträubte. Zumal er mit Sicherheit kein Menschenfreund war.
Es überraschte Rüdiger nicht, dass er erneut hochgerissen und von dem Silbernen weggetragen wurde.
„So sei es denn, wenn es Euer aller Wille ist und Ihr alle von seiner Schuld überzeugt seid. Ich werde ihn zum Richtplatz bringen, dort wird der Scharfrichter das Böse aus diesem Menschen jagen.“
Diese Ankündigung wurde von tosendem Jubel der Meute begleitet.
Sarankant schüttelte traurig seinen Kopf und blieb allein zurück, während die anderen Silberfang und dem angeblichen Delinquenten folgten. Eine Hinrichtung gab es nicht alle Tage und der Scharfrichter war berüchtigt. Wenn es sein musste, konnte er den Verurteilten über Stunden leiden lassen. Vielleicht würde er mit diesem Menschen etwas besonders Grausames anstellen.

Wie das buchstäbliche Lamm zur Schlachtbank hatte man den Menschen zum Richtplatz geführt. Der Gestank von getrocknetem Blut und anderem, von dem Rüdiger gar nicht wissen wollte, um was es sich handelte, stieg dem Menschen in die Nase. Man zwang ihn bäuchlings auf einen großen Holzbock.
Mit schnellen, geübten Handgriffen wurde er an Händen und Füssen an den Beinen des Bocks festgebunden. Die Lederriemen schnitten Rüdiger unangenehm ins Fleisch. Man hatte ihm eine schwarzen Sack über den Kopf gestülpt, durch den nicht das geringste Licht drang und leider auch kaum Luft. Er drohte zu ersticken. Doch der Mann rechnete damit, dass ihm wohl ein schlimmeres Schicksal bevorstand.
„Tötet ihn!“, „Richtet ihn!“, „Tötet den Dieb!“ skandierte die Menge.
Dann ging ein Raunen durch die Menge und tosender Applaus, als der Scharfrichter das Podium, auf dem der Richtbock stand, betrat. Rüdiger konnte ihn nicht sehen, aber den Schritten nach zu urteilen musste es sich um einen sehr großen Drachen handeln.
In der Tat war die Erscheinung imposant: Ein gewaltiger anthropomorpher Drache, ein wahrer Hüne von beinahe drei Metern, winkte der Menge zu und ließ sich feiern wie in der Menschenwelt ein Popstar. Seine hellroten Schuppen glitzerten in der Sonne und er schwenkte eine archaisch anmutende Axt.
„Dieser Mensch hier ist für schuldig befunden, Diebstahl begangen und zur öffentlichen Aufruhr beigetragen zu haben. Offensichtlich besitzt er auch noch die Gabe der schwarzen Magie, denn ihm gelang es, seine wahren Absichten vor mir zu verschleiern. Da er auf diese Weise auch unsere Königin getäuscht hat - denn nur so lässt es sich erklären, dass sie ihn wider jeder Vernunft und Gesetz hierher gebracht hat - ist er eine Gefahr für uns alle. Daher wird er zum Tode verurteilt. Das Urteil ist sofort zu vollstrecken“, deklarierte Silberfang mit feierlicher Stimme.
Die Menge tobte vor Begeisterung, doch einige Drachen wandten sich angewidert ab. Sie waren von der Unschuld des Menschen überzeugt, so wie es der Händler war, doch was sollten sie schon gegen diesen Mob ausrichten?
Silberfang wandte sich an den roten Anthrodrachen: „Scharfrichter, waltet Eures Amtes. Doch bedenket, es handelt sich um einen Menschen und er war ein Schützling Si’Rakks. Daher ist das Urteil mit besonderer Gnade zu vollstrecken.“
Der Rote verbeugte sich. „Wie Ihr befehlt, Lord. Ich werde also sanftmütig sein.“

In der Menge war es still geworden, als der Scharfrichter nun neben den gebunden Menschen trat. Er hatte die Axt hoch erhoben und blickte auf den Menschen herab: „Die Axt ist sehr scharf, ich werde Dir mit einem sauberen Schlag einen sehr schnellen und gnädigen Tod gewähren. Mögen sich die Götter Deiner Seele annehmen.“
Rüdiger schloss die Augen. Ein kurzer Schmerz und es würde vorbei sein – so hoffte er.
Aber nichts dergleichen passierte, nur nahm er allmählich den Gestank von verbranntem Fleisch wahr und dumpf drang Kampflärm an seine Ohren.
Mit einem plötzlichen Ruck wurde ihm der Sack von seinem Kopf gerissen und Rüdiger starrte auf das Kyryn, das vor ihm stand. Er erkannte in ihm sofort Tabbla, einen der Wächter, die ihn damals festgenommen hatten. Es löste mit schnellem Griff die Fesseln und zischte: „Geh in Deckung.“

Schon in dem Augenblick, als sich das Kyryn Si’Rakk Höhle näherte, wusste sie, dass etwas passiert sein musste.
Tabbla hatte nicht viel erklären müssen und sie machte sich unverzüglich auf den Weg. Auf dem halben Weg zur Stadt kam ihr ein schwarz-roter Drache entgegen. Es war Sarankant, der Händler.
„Gut, dass Ihr kommt, Majestät. Es geht um Euren Menschen. Sie wollen ihn töten, er wird bereits zum Richtplatz geführt!“
Als sie sich der Richtstätte näherten, erfasste die Drachin augenblicklich die Situation. Doch noch bevor sie selbst handeln konnte, schoss wie aus dem Nichts ein großer goldener Drache vom Himmel herab und löschte mit einem einzigen, gut gezielten Feuerstrahl das Leben des Scharfrichters aus, ohne dem gefesselten Menschen auch nur ein Härchen zu versengen. „Habe ich es Dir nicht gesagt, Tochter? Dieser Mensch macht uns nur Scherereien“, grollte er.
„Vater!“ Si’Rakk war erleichtert.
„Keine Zeit für viele Worte. Bring den Mob zur Räson, Tochter“, schnaubte Nafarion, als sie landeten.
In der Zwischenzeit hatten vier Kyryns, weitere Mitglieder der königlichen Garde, unter der Führung Tavvlas den Silberdrachen verhaftet und hielten ihn in Schach.
„Vater, bitte bringe den Menschen in meine Höhle und schicke unseren Heiler nach ihm. Ich denke, er steht unter Schock“, bat Si’Rakk.
Ihre kraftvolle Stimme donnerte über den Platz, als sie sich daraufhin an die sensationsgierigen Schaulustigen wandte. „Hört mir gut zu. Dieser Vorfall wird eine genaue Untersuchung nach sich ziehen. Ich bin zutiefst verärgert und maßlos enttäuscht, denn Euer Verhalten war nicht im Geringsten mit dem Wesen eines Drachens zu vereinbaren. Viele von Euch verachten die Menschen, doch genau so wie sie habt Ihr Euch eben verhalten! Der edle Silberfang wird in Gewahrsam genommen bis geklärt ist, was genau ihn zu diesem Urteil gegen den Menschen bewogen hat. Zweifelsohne wurde er von Euch manipuliert. Doch ich verspreche Aufklärung. In diesem Zusammenhang wird auch ermittelt werden, wer von Euch diesen Mensch des Diebstahls und auch der Anwendung von Schwarzem Zauber bezichtigte. Mehr habe ich Euch nicht zu sagen, bis auf eines: Ich spreche den Menschen von allen Anklagepunkten frei, er ist unschuldig.“

Sie breitete ihre gewaltigen Schwingen aus und stieß sich kraftvoll vom Podium ab. Der Anblick ihres schlanken, durchtrainierten Leibes, dessen goldene Schuppen im hellen Sonnenlicht funkelten, war auch für die anderen Drachen stets aufs Neue ein Erlebnis.
Als sie ihre Behausung erreichte, sah sie gerade den von ihrem Vater herbeigeholten Heiler, ein würdiger, alter Drache in dunkelblauem Schuppengewand, im Höhleneingang verschwinden.
„Wie geht es ihm?“ fragte sie ihren Vater, der sich auf dem Felsen vor ihrer Höhle niedergelassen hatte und auf seine Tochter wartete.
„Das wird der Heiler feststellen“, brummte er. „Kind, weißt Du überhaupt, was Dein Mensch heute ausgelöst hat? Diese Untersuchungen werden auch vor den Mitgliedern des Ältestenrates nicht halt machen. So viele Umstände, nur weil Du Dich in einen Menschen verguckt hast.“
„Wie bitte?“ begehrte Si’Rakk auf. „Was unterstellst Du mir da? Und was die Untersuchung anbelangt, wo liegt da das Problem? Dass auch die Ratsmitglieder befragt werden? Wenn ihr Gewissen rein ist, haben sie nichts zu befürchten.“
„Tochter, darum geht es doch nicht.“ Die Stimme Nafarions wurde weicher. Er senkte seinen Kopf ein wenig und lächelte: „Wie lange willst Du Dir selber noch etwas vormachen? Jeder von uns kann es sehen und fühlen: Du empfindest mehr für diesen Menschen als was man sonst für seinen Schützling empfindet. Es ist auch ein stärkeres Gefühl als Freundschaft, das Dich an ihn bindet.“
„Vater, ich...“
„Unterbrich mich nicht. Du liebst ihn, Tochter“, stellte Nafarion fest. „Die Frage ist nur, ob er Deine Gefühle auch erwidert.“
Si’Rakk scharrte unruhig mit ihren Krallen. Sie wollte ihrem Vater ins Gesicht schreien, dass dies nur ein Hirngespinst sei, doch tief in ihrem Herzen wusste sie, dass er die Wahrheit sprach. In der Tat hatte sie sich ihre Gefühle für ihren Menschen niemals eingestehen wollen. Betreten senkte sie ihren Kopf. Ihr Vater legte zärtlich eine Schwinge über ihren Rücken. „Kind“, sagte er leise. „Du weißt, dass ich nicht der großen und schönen Worte mächtig bin, doch alles was ich sagte, sollte zu Deinem Besten sein. Ich will doch nur, dass Du glücklich bist. Auch wenn ich es immer noch als Fehler ansehe, einen Menschen in unsere Welt zu bringen, wenn dieser Zweibeiner wirklich derjenige ist, nach dem sich Dein Herz verzehrt, so will ich um Deinetwillen diesen Rüdiger als meinen Schwiegersohn akzeptieren.“
Als der dieses Wort aussprach, erschauerte Nafarion merklich. Dennoch machte Si’Rakks Herz einen Freudenhüpfer, denn ihr Vater hatte ihren Schützling bei seinem Namen genannt und ihn damit indirekt als Artgenossen akzeptiert.
„Vater...“, begann sie, doch wurde sie von Nafarion unterbrochen, der laut nachdachte: „Ich frage mich allerdings ernsthaft, wie ihr beide Nachwuchs zeugen wollt. Du bist die Königin. Deine Pflicht ist es, einen Thronfolger zu gebären. Abgesehen davon hätten meine alten Drachenaugen lieber einen prächtigen Drachen mit goldenen oder silbernen Schuppen an Deiner Seite gesehen.“
Damit breitete er seine Schwingen aus und schwang sich in die Lüfte. „Diese Jugend von heute“, hörte man ihn noch brummeln.

Die Stimme des Heilers, der leise wie ein Schatten neben sie getreten war, riss sie aus ihren Gedanken: „Ihr könnt nun zu ihm, Majestät.“
„Wie geht es ihm?“
Der dunkelblaue Drache schüttelte seine Schwingen ein wenig und faltete sie gemessen an seinem Rücken zusammen. „Den Umständen entsprechend. Er stand unter Schock, ich habe ihm einen Trank verabreicht, der sollte in Kürze wirken. Er wird ihn einige Stunden schlafen lassen.“
„Ich danke Euch für Eure Bemühungen. Ich werde mich sogleich um ihn kümmern.“
Der Heiler verbeugte sich leicht: „Stets zu Diensten. Wenn noch etwas mit dem Menschen sein sollte, so wisst Ihr ja, wo Ihr mich findet.“
Als Si’Rakk an das Nest trat, schlief Rüdiger bereits tief und fest
Sie wachte beinahe rund um die Uhr über ihren Schützling, den sie selbstverständlich bis auf weiteres von all seinen Pflichten entbunden hatte.

[Fortsetzung folgt]
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« Antworten #15 am: 21.Januar.2008, 23:25:31 »

Die Tage plätscherten dahin und Rüdiger erholte sich zusehends. Er hatte auch darauf bestanden, wieder seinen Pflichten als Dienstbote der Drachin nachzukommen. „Ich hasse es, untätig rumzuliegen. Ich konnte das schon nicht in meiner Welt haben, als ich berufstätig war. Einmal bin ich sogar ins Büro zum Arbeiten gekommen, obwohl mich der Arzt für ein paar Wochen krankgeschrieben hatte.“ Rüdiger seufzte. „Aber trotzdem hat man mir gekündigt. Auch wenn in unserer Gesellschaft immer wieder von Leistungsbereitschaft gesprochen wird, Leistung zahlt sich heutzutage nicht mehr aus. Überhaupt, ich finde...“
„Shhhh!“ unterbrach ihn die Drachin. „Diese Zeit liegt ein für allemal hinter Dir. Dir sollte nicht entgangen sein, dass hier andere Verhältnisse herrschen.“
„Ja, das habe ich gemerkt“, entgegnete Rüdiger bitter.
Si’Rakk zuckte zusammen. Doch sie konnte es dem Menschen nicht verdenken, nach allem, was er durchgemacht hatte. „Niemand hat je behauptet, dass wir Drachen vollkommene Geschöpfe wären“, sagte sie vorsichtig.
Sie saßen zusammen vor der Höhle und betrachteten den Sonnenuntergang. Der Mensch hatte sich gegen die warme Flanke der Drachin gelehnt und sie legte ihrerseits einen Flügel um ihn. Dieses Szenario entsprach dem, was sich Rüdiger vor so langer Zeit vorgestellt hatte beim Verfassen eine seiner Geschichten.
„Ich grüble immer noch, wie das passiert ist. Ich schwöre, ich habe nichts Unrechtes getan, ich...“
„Die Untersuchungen laufen“, sagte Si’Rakk knapp. Sie streichelte behutsam Rüdigers Rücken. „Ich bedauere sehr, was passiert ist. Doch Du solltest Dich nicht damit quälen. Ich weiß, dass es nicht Deine Schuld war.“
„Allerdings frage ich mich“, fügte sie leise hinzu, „ob ich nicht daran schuld bin. Es ist wahr, ich hätte Dich nicht hierher bringen dürfen. Nicht umsonst habe ich damals selbst dieses Gesetz erlassen. Genau diese Art von Geschehnissen sollte dadurch verhindert werden.“
„Weshalb hast Du mich denn mitgenommen?“
Auch wenn es nur eine Frage der Zeit gewesen war, wann diese Frage gestellt würde, zuckte die Goldene zusammen. Sie versuchte es mit einer Gegenfrage: „Weshalb bist Du mit mir mitgekommen?“
Rüdiger blickte zu Boden. „Weil es mein Herzenswunsch war. Ich habe Dir doch erzählt, dass ich mir nichts sehnlicher wünschte, als unter Drachen mit Drachen zusammenzuleben.“
„Und, ist es das immer noch, was Du möchtest?“
„Du meinst, wegen diesem Vorfall am Markt?“ Rüdiger seufzte. „Du hast mich ja eigentlich gewarnt, dass so etwas passieren könnte. Aber Du bist meiner ursprünglichen Frage ausgewichen.“
Si’Rakk konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Aufmerksam war er, dieser Mensch. Sie wurde wieder ernst. „Weil Du mir sehr viel bedeutest. Weil mir Dein Wohlergehen am Herzen gelegen ist.“
Eine leichte Brise kam auf und es war, als würde der Wind ihre Worte nicht nur an Rüdigers Ohr tragen, sondern direkt in seine Seele hinein.
„Und weil ich mit Dir zusammen sein wollte.“
Die plötzlich eingetretene Stille war für beide deutlich fühlbar. Rüdiger errötete ein wenig. „Das war auch noch ein Beweggrund, mit Dir mitzukommen. Du bist der Drache, von dem ich früher immer geträumt habe, den ich vor Augen hatte, wenn ich meine Geschichten schrieb.“
Si’Rakk lachte leise: „Wirklich? Nun, ich weiß nicht, ob ich mich dabei geschmeichelt fühlen soll. Erinnerst Du Dich noch an Deine Geschichte mit diesem Schachspiel? Ich hoffe doch sehr, dass ich nicht gar so schrecklich bin wie jene Erddrachin, die Du da beschrieben hattest.“
Rüdiger schüttelte den Kopf und streichelte zaghaft Si’Rakks Schnauze: „Bestimmt nicht. Das war damals eine Auftragsarbeit, die mir aber sehr viel Freude gemacht hat. Vor allem hätte ich mich in diese böse Drachin verlieben können. Man sagt ja, „böse macht sexy“. Aber ich gestehe, als Falke hast Du mir manchmal auch ganz schön Angst eingejagt. Dein Schnabel war ganz schön scharf.“
„Das will ich auch meinen“, lachte die Drachin. „Außerdem musste ich Dir ein wenig Feuer unter Deinem Hintern machen, was mir in meiner richtigen Gestalt zweifelsfrei noch besser gelungen wäre. Aber ich musste Dir einfach Deinen Kopf zurecht rücken. Vor allem, dass Du selbst Hand an Dich anlegen wolltest, das war unverzeihlich.“
Sie schnaubte ihren warmen Atem in Rüdigers Gesicht und in diesem Augenblick brach ein Damm im Herzen des Menschen. Er errötete noch mehr und das Blut rauschte in seinen Ohren. „Ich... ich muss Dir ein Geständnis machen.“
Si’Rakk blickte ihm feste in die Augen und Rüdiger senkte den Blick.
 „Es ist ein wenig kindisch, muss ich gestehen.“ Der Mensch holte tief Luft. „Vor allem, für einen Mann in meinem Alter schickt sich das wohl auch nicht so recht. Also, um es kurz zu machen. Ich…Ich…Ich liebe Dich. Ich denke, ich habe mich schon in Dich verknallt, als Du noch dieser Falke warst. Nach Deiner Verwandlung war es dann vollends um mich geschehen.“
Dem Mann war klar, dass dieses Geständnis für sie schockierend, zumindest aber albern sein musste. Er dachte an sein früheres Leben zurück. In den Filmen, die er sich damals angesehen hatte, hatte er solche Aussagen stets als Liebesgesülze abgetan. So weit er sich erinnerte, hatte er auch seinen damaligen Freundinnen niemals „Ich liebe Dich“ gesagt. Als Mann, der an das Konzept der Lebensabschnittspartnerin glaubte, waren ihm diese berühmten drei Worte stets wie eine hohle Hülse erschienen, eine romantische Phrase ohne tieferen Sinn. Doch heute, jetzt und hier, war alles anders. Das jetzt war kein Hollywoodstreifen und er empfand sehr viel für die Drachin. Sein Verstand jedoch rebellierte: Ein Mensch verliebt sich in einen Drachen? Noch dazu in eine Drachenkönigin! „Der Schöne und das Biest“ oder „Pretty Woman“ mit vertauschten Rollen? Wie bescheuert war das denn? Es machte in der Tat nicht viel Sinn, aber Rüdiger fühlte einfach, dass es so richtig war, dass seine Gefühle aufrichtig waren. Sein Herz siegte schließlich über seine Vernunft.
Si’Rakk lächelte vielsagend: „Das weiß ich doch längst.“
Sie strich ihm mit einer Krallenspitze ein wenig die Haare aus seiner Stirne. „Und so bescheuert, wie Du denkst, ist das gar nicht.“
Dann fügte sie zwinkernd hinzu: „Ich erinnere mich noch an die Geschichte, die ich für Dich illustriert habe. Die mit dem Delphin. Was hat also jene Drachin - wie war doch gleich ihr Name, Windfang glaube ich, - zu dem Menschen gesagt, als er ihr seine Liebe gestand?“
Rüdigers Gesicht war nun dunkelrot und Si’Rakk zog ihn enger zu sich heran. „Ich sage zu Dir nun das gleiche, was damals Windfang jenem Menschen zur Antwort gab. Und dem habe ich nichts hinzuzufügen, außer, dass ich mich sehr darüber freue.“
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« Antworten #16 am: 21.Januar.2008, 23:26:16 »

Sie blickten einander tief in die Augen, Rüdigers Puls raste. Er zog zaghaft die Drachenschnauze zu sich herunter und platzierte einen zärtlichen Kuss auf ihre Nüstern.
Er fühlte sich im siebten Himmel. In seinem Kopf drehte sich alles und er hatte die sprichwörtlichen Schmetterlinge im Bauch.
Doch ein Schatten legte sich über sein Gemüt, so fein und zart, wie eine Schleierwolke das Sonnenlicht trübt.
Rüdiger war glücklich und traurig zugleich: Glücklich, weil die Drachenkönigin, nein, seine Herzenskönigin seine Liebe erwiderte. Traurig, weil er wusste, dass sie keine Zukunft haben würden. „Si’Rakk, Du weißt, wir können nicht…“
Die Drachin stupste ihn mit ihrer Schnauze an und ihre Schwanzspitze tippte auf den Boden. In ihrer Stimme lag Belustigung, aber auch ein Hauch von Ungeduld: „Es ist alles eine Frage unserer - insbesondere Deiner - inneren Einstellung. Wenn Du es wirklich willst, dann können wir sehr wohl. Allerdings würde ich Dich dann doch in Drachengestalt bevorzugen. Rüdiger, ich bin ein klein bisschen enttäuscht. Du selbst hast in Deiner Geschichte damals über genau diese Problematik geschrieben.“
„Heißt das“, Rüdiger schluckte. „Heißt dass, dass Du mich in einen Drachen verwandeln kannst?“
„Nein, das kann ich nicht“, erwiderte Si’Rakk platt, doch ihre Augen glitzerten. „Aber ich kenne jemanden, der dies mittels eines Tranks vermag.“
„Ein Trank, der Menschen in Drachen verwandelt?“
„Nein, so einfach ist es dann doch nicht“, erwiderte Si’Rakk ernst. „Im Gegenteil. So ein Trank kann nur eine Gestalt verändern, nicht aber das Wesen. Ein normaler Mensch, der diesen Trank zu sich nehmen würde, hätte dann in der Tat den Körper eines Drachens. Nicht aber dessen Geist oder Seele. Kein Drache mit einem Funken Verantwortungsbewusstsein würde daher zulassen, dass ein Mensch diesen Trank kostet. Allerdings, bei Dir liegt der Fall anders.“
„Inwiefern?“ fragte Rüdiger und hatte im gleichen Augenblick die Befürchtung, Si’Rakk würde auf ihn losgehen. Sie hatte sich erhoben und ihr Schwanz peitschte wütend die Luft, ihre Augen glühten im zornigen Rot.
„Diese Frage wagst Du tatsächlich zu stellen? Denke zurück an Deine jungen Jahre, an Deine Welt. Erinnere Dich, was ich vor der Ratsversammlung gesagt habe.“
„Du meinst, ich bin wirklich ein Drache?“
„Nicht meinen. Ich spüre es. Und auch Du empfindest etwas Derartiges. Wage es nicht zu behaupten, kein Drache zu sein. Ich kenne Dich besser, als Du Dich selbst jemals kennen wirst. Aus diesem Grund würde ich es bei Dir riskieren. Allerdings musst Du Dir selbst ganz im Klaren darüber sein, ob Du das wirklich möchtest.“

Der Heiler reichte dem Menschen den Pokal, in dem eine dickflüssige Substanz graubraun blubberte. Der Geruch war ekelerregend. „Ich habe noch Erdbeersaft hinzugefügt, um den Geschmack für Dich etwas erträglicher zu machen, Rüdiger.“
Dann wandte er sich an Si’Rakk: „Ihr seid sicher, Majestät, dass Ihr beide das wollt? Und dass er wirklich immer schon einer von uns war, nur nicht im Blute? Denn einmal davon getrunken kann man die Transformation nicht mehr rückgängig machen.“
„Rüdiger?“ Si’Rakk gab die Frage an den Menschen weiter. „Du hast das letzte Wort in dieser Angelegenheit. Ich zwinge Dich nicht, diesen Schritt zu tun, aber Du würdest mich sehr glücklich damit machen.“
„Werden mich die anderen Drachen dann als vollwertiges Mitglied in der Drachengemeinschaft akzeptieren?“
„Das vermag ich Dir nicht zu sagen“, erwiderte die Drachin sanft. „Sicherlich aber werden sie sich leichter damit tun, Dich zu akzeptieren, wenn Du in Drachengestalt bist.“
„Was kostet der ganze Spaß hier eigentlich?“ fragte Rüdiger plötzlich aus einem inneren Impuls heraus.
Der Heiler lachte schallend auf: „Ganz ein Drache, wahrlich. Er scheut monetäre Kosten mehr als Schmerz und Kummer.“ Er zwinkerte vergnügt. „Nun, an sich ist dieser Trank unbezahlbar. Aber es ist mir eine Freude und Ehre, einen neuen Drachen in dieser Welt hier willkommen zu heißen. Daher berechne ich ihn weder Dir noch Ihrer Majestät.“
Rüdiger roch an der Flüssigkeit und konnte gerade noch den aufkommenden Brechreiz niederzwingen. „Wie soll ich den runterbringen?“
„Du solltest ihn möglichst rasch trinken, solange er noch heiß ist“, grollte der Heiler leise.
Der Mann nippte daran, doch in dem Augenblick, als er seine Lippen mit dem Trank benetzte, drehte sich ihm der Magen um. „Das Zeug riecht und schmeckt wie Pferdekotze.“
„Also, ein bisschen kooperativer könntest Du schon sein, Rüdiger“, tadelte die Drachin. „Außerdem schockiert es mich, dass Du weißt, wie Pferdekotze schmeckt.“
Sie gab dem Heiler ein Zeichen und in einer fließenden Bewegung drückte sie Rüdigers Kopf in seinen Nacken. Er schrie überrascht auf und diesen Augenblick nutzte der alte Drache, um ihm das Gebräu einzuflößen. Anschließend presste er seine Tatze auf Rüdigers Mund und zischte: „Schön schlucken, Freund.“
„So ist's brav“, sagte Si’Rakk leise und gab Rüdiger eine Handvoll Erdbeeren.
„Bäh, das ist so was von eklig. Mir kommt's gleich hoch!“ keuchte Rüdiger, als der Heiler seine Tatze wieder wegnahm.
„Du hast's ja jetzt geschafft. Komm, iss Deine Erdbeeren, dann vergeht der Geschmack gleich wieder“, schnurrte die Drachin.
„Vergiss die Erdbeeren! Die helfen auch nichts; ich brauche was zu trinken und zwar gleich. Dieser öde Geschmack im Mund macht mich schier wahnsinnig.“
Rüdiger blickte sich verzweifelt nach Wasser um, doch der Heiler schüttelte den Kopf: „Nein! Nichts trinken jetzt. Der Trank würde seine Wirkung verlieren, wenn Du nun nachtrinkst.“
„Och, Menno! Das ist jetzt nicht Euer Ernst, oder? Ich reihere gleich alles voll.“
„Der Trank“, erklärte der alte Drache würdevoll und versuchte Rüdigers Umgangssprache zu ignorieren, „wird ohnehin in Kürze seine Wirkung entfalten. Da der Verwandlungsprozess äußert schmerzhaft ist, habe ich ein starkes, schmerzlinderndes Mittel beigefügt. Das wird dafür sorgen, dass Du während der Transformation tief und feste schlafen wirst. Du solltest Dich also allmählich zur Ruhe begeben. Eure Majestät würde ich bitten, über unseren Jungdrachen zu wachen. Sollte es irgendein Problem geben, was ich allerdings bezweifle, dann ruft mich bitte sofort.“
„Jungdrache?“ fragte Rüdiger.
„Nun, körperlich wird Dein Aussehen dem eines Drachens im vergleichbaren Drachenalter entsprechen. Da Du jedoch zuvor in diesem Menschenkörper gesteckt hast, fehlt Dir die Lebenserfahrung als Drache. Daher wirst Du auf dem Erfahrungsstand eines Jungdrachens sein. Aber ich bin zuversichtlich, dass Du rasch lernen und damit reifen wirst.“
Der alte, blaue Drache legte aufmunternd seine Schwingen um den Menschen. „Ich wünsche Dir alles Gute. Wenn die Verwandlung abgeschlossen ist, möchte ich Dich untersuchen. Doch nun, leg Dich hin und schlafe, lass Dich treiben...“

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« Antworten #17 am: 23.Januar.2008, 19:59:51 »

Rotglühende Augen leuchteten im Dunkel der Nacht. Sie fixierten den Menschen, durchdrangen seine Haut und brannten sich in seine Seele.
Rüdiger wurde in einen Wirbel aus Rot und Gold gezogen.
Die Leuchtziffern seines Radioweckers glühten auf in einem roten Wirbel und schienen kurz drauf langsam zu verblassen wie die Sterne in der Morgendämmerung. Im Hintergrund war das aufdringliche Ticken eines altmodischen Weckers zu hören, ein Ticken wie Herzschlag, wie der Puls, wie rotes Blut, das durch Rüdigers Arterien gepumpt wurde ohne Unterlass.
Er fühlte sich wie in einem Backofen und begann zu schwitzen, das rotglühende Augenpaar war immer noch auf ihn gerichtet.
Es schien zu einem lauernden Raubtier zu gehören, das ihm seine Seele rauben wollte. Kometen mit Feuerschweifen zogen an ihm vorbei, Kometen, die wie große Vögel mit den Flügeln schlugen. Manche dieser Vögel brannten lichterloh und sie erinnerten ihn an Falken, große Falken mit goldenem Gefieder.
Immer wieder dieses glimmende Augenpaar.
Doch Ticken und Pulsieren und Rotes Glühen schwächten ab und er hatte das Gefühl, einen milchigen Schleier zu durchbrechen.
Tief. Hoch. Zeit. Raum. Er war ein Strahlenstrom. Er war Energie.
Etwas Brennendes zog ihn an, ein lodernder Feuerball, heiß und groß und unendlich fern, doch auch tröstend und nahe – und kalt wie Eis.
Rüdiger blickte nach unten und entdeckte nichts als gähnende Leere.
Das goldene Funkeln rechts von ihm lenkte ihn ab.
Sie war das Schönste, was er je gesehen hatte. Die goldene Drachin blickte ihn zärtlich an, ihre rotglühenden Augen nahmen allmählich die Farbe von Bernstein an. Sie flog an ihm vorbei, kehrte um und umkreiste ihn spielerisch. Nahezu instinktiv versuchte der Mensch ihr zu folgen, doch sein Körper war dieses Element nicht gewöhnt und er stürzte wie Blei in die Tiefe.
Die Goldene eilte herbei, fing ihn auf und bugsierte ihn zurück, hoch über die Wolkenberge. Er wurde ruhiger und er passte sich ihren Bewegungen an, bis er feststellte, dass er flog, kräftige Flügelschläge stabilisierten ihn und trieben ihn vorwärts.
Die Drachin näherte sich ihm unvermittelt und sie umschlangen sich gegenseitig mit den Flügeln. Sie stürzten dem felsigen Boden entgegen, sich im letzten Augenblick loslassend und wieder in den Himmel steigend. Sein Menschenkörper brannte und schien zu zerbersten, dem Druck des Fliegens nicht gewachsen.
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« Antworten #18 am: 23.Januar.2008, 20:01:16 »

Rüdiger fühlte sich nicht sehr wohl in seiner Haut. Abgesehen von einem plötzlichen,  unerklärlichen Heißhunger auf rohes Fleisch und einem brennendem Verlangen nach frischem, warmem Blut, war ihm schwindlig. Er hatte einen äußert bizarren Traum gehabt und er brauchte einige Minuten, um sich zu orientieren. Wo mochte er bloß sein? Alles um ihn herum erschien ihm furchtbar fremd, doch zugleich auch unheimlich vertraut.
„Alles in Ordnung mit Dir? Du hast drei Tage durchgeschlafen.“
Si’Rakk stand neben seiner Schlafstätte. Rüdiger bemerkte erst jetzt die Tiefe ihrer Bernsteinaugen. Bisher waren ihm ihre Augen immer nur aufgefallen, wenn sie rotglühend waren. Da fiel ihm auch wieder sein Traum ein. Der Traum von diesem rotglühenden Augenpaar. Ein Traum, den er auch schon früher des Öfteren hatte. Doch wann früher? In einer anderen Zeit? In einem anderen Leben?
Auch Si’Rakks Geruch war heute Morgen besonders intensiv, zumindest nahm er ihn bewusster wahr – und er mochte ihn. Mehr noch: Dieser Duft erregte ihn.
„Drei Tage?“ fragte Rüdiger. „Wirklich? Kein Wunder, dass ich so Hunger habe. Ich könnte eine ganze Kuh verdrücken. Was red ich denn da, einen ganzen Ochsen. Oh, zumindest ein paar Eier mit Speck... Autsch, mein Kopf! Was ist bloß passiert? Hatten wir eine Party, oder was?“
Der Mann durchlebte einen so heftigen Kater, als ob er mehrere Nächte hintereinander durchzecht hätte.

Si’Rakks Kopf schien mit dem seinen auf gleicher Höhe zu sein, obwohl sie doch auf allen Vieren vor ihm stand. Dann fiel ihm eine dunkle Fläche in seinem Blickfeld auf, genau an der Stelle, an der bei einem Tier üblicherweise eine Schnauze… sein würde? Schlagartig war Rüdiger hellwach. Er blickte hinunter auf seine ‚Hände’. Er hatte Klauen! Sie waren schuppig, jede Schuppe schien aus fließendem Silber. Die Klauen liefen in sichelartige Krallen aus. Auch sein restlicher Körper steckte in einem funkelnd silbernen Schuppenpanzer. Rüdiger starrte ungläubig.
Zwei kraftvolle, lederne Schwingen und starke, stämmige Hinterbeine. Sein langer, schuppiger Schwanz endete in einem Dorn… Schwanz?
Vorsichtig versuchte er ihn hin und her zu bewegen, und siehe da, es klappte. Sein Rücken war mit sich nach hinten hin verjüngenden Stacheln besetzt. Aus seinem Schädel spross ein Paar dunkelfarbener, leicht nach vorne gekrümmter Hörner, seine Schnauze war lang und schlank und seine Brust war mit dicken, großen Hornplatten bedeckt, die auch seinen Unterleib schützten. Er konnte zwei Fänge spüren, die aus dem Oberkiefer hervorstanden wie die Reißzähne eines Säbelzahntigers. Seine Zunge war lang und gespalten… Was für ein merkwürdiges Gefühl.
„Si’Rakk… Träume ich das nur? Ich… ich bin… ein… ich bin ein Drache! Ein leibhaftiger Drache.“
Ohne dass er es gewollt hatte oder gar hätte steuern können, entfuhren seinem Maul ein paar Feuerbälle. Gelassen duckte sich Si’Rakk, die sich ruhig in einer Ecke der Höhle niedergelassen hatte und amüsiert Rüdigers Selbstbetrachtung beobachte. „An Deiner Atemtechnik beim Sprechen werden wir als erstes üben müssen“, meinte sie schmunzelnd.
„Aber… wieso? Ich verstehe nicht! Wie konnte das geschehen? Bin ich das wirklich? Bin ich wirklich ich, ich Rüdiger?“
Si’Rakk erhob sich und schritt auf den frisch entstandenen Drachen zu. Sie streckte ihre linke Vordertatze nach ihm aus und kraulte seine Nüstern entlang. „Ja und Nein“, sagte sie. „Das hier bist Du in der Tat. Doch bist Du nun nicht mehr länger Rüdiger, der Mensch. Du bist nun Drache, der zu sein es Dir immer schon bestimmt war. Elidon Silberzahn.“
Sie sprach den Namen beinahe aus wie eine Beschwörungsformel. Ihre Stimme bedeutete das Ende des Menschen Rüdiger: Als sie seinen neuen, seinen wahren Namen aussprach, verschwand der Mensch gleich einem Schatten, der von der unendlichen Schwärze des Weltalls verschluckt wurde. Rüdiger war nur noch eine vage Erinnerung, irgendwo entfernt in dieser tiefen Finsternis.

Elidon versuchte auf seine vier Beine zu kommen, fiel aber sofort wieder hin.
„Mach Dir keine Sorgen, mein Lieber. Es wird noch einige Zeit dauern, bis Du Dich daran gewöhnt hast. Ich werde Dich persönlich lehren, ein Drache zu sein und ich bin mir sicher, dass mich dabei die anderen Drachen, vielleicht auch der Ältestenrat, unterstützen werden.“
Mit diesen Worten sprang Si’Rakk einem Tiger gleich den Silberdrachen an und sie balgten sich spielerisch, umarmten sich und lachten. Sie warf ihn ohne weiteres um und stellte sich über ihn, eine Tatze drückte sie neckisch in seine Brust. „Ergib Dich Deiner Königin!“ rief sie und Elidon reckte seinen Kopf, um kurz über ihre Tatze zu lecken: „Euer untertänigster Diener, Majestät.“
Sie bemerkten in ihrer Ausgelassenheit nicht, wie die Zeit verging. Stunden um Stunden verbrachten sie mit Balgen und Raufen, mit der Erforschung von Elidons neu gewonnenem Drachenkörper und dem Austausch von Zärtlichkeiten. Doch irgendwann übermannte beide die Müdigkeit und mit eng aneinander geschmiegten Leibern und der Versicherung ihrer gegenseitigen tiefen Zuneigung schliefen sie ein.
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« Antworten #19 am: 23.Januar.2008, 20:02:23 »

Die Sonne schickte ihre ersten morgendlichen Strahlen in die Höhle, ein neuer Tag war angebrochen.
Mehrere Wochen waren seit der Transformation vergangen, Wochen voller Romantik, wechselseitiger Streicheleinheiten und Ausgelassenheit. Doch hatte Elidon in dieser Zeit auch hart arbeiten müssen: Das Leben eines Drachens war alles andere als einfach, wenn man zuvor ein halbes Jahrhundert einem Menschenkörper zugebracht hatte.
Von der Umgewöhnung in Punkto der Ernährung - Drachen konsumierten ihr Fleisch nun einmal am liebsten im Rohzustand - bis hin zur Kontrolle seines Atems, damit ihm nicht mehr versehentlich beim Sprechen oder bei körperlichen Anstrengungen Feuersalven aus seiner Schnauze entfuhren, all das hatte der junge Drache von Grund auf zu lernen.
„Dein Elidon macht gute Fortschritte, das hätte ich wahrlich nicht für möglich gehalten“, brummte Nafarion, der zum Frühstück erschienen war und einen frisch geschlagenen Ochsen mitgebracht hatte.
Die silbernen Gesichtsschuppen des Jungdrachens hatten eine leicht rosigen Glanz angenommen; das war etwas, was er von seinem Menschenkörper anscheinend übernommen hatte: die Fähigkeit zu erröten.
„Jedoch“, fuhr er grinsend fort, „scheint er eine Schwäche dafür zu haben, einzelne Bäume oder andere Hindernisse als Bremse für seinen Flug verwenden zu wollen. Auch am zielgenauen Sturzflug müssen wir noch etwas härter arbeiten.“
Si’Rakks Vater war ein verständnisvoller Lehrer. Trotz seiner immer noch bestehenden Vorbehalte gegenüber dem Gefährten seiner Tochter unterwies er ihn geduldig und doch gründlich in der Kunst des Fliegens, etwas, was für einen Drachen ebenso selbstverständlich war wie für einen Menschen das Fahrradfahren.
„Ich danke Dir, dass Du Dir die Mühe machst, ihn zu unterrichten, Vater“, sagte Si’Rakk leise und leckte ihm zärtlich über die Schnauzenspitze.
„Iiehk!“ gab ihr Vater von sich. „Lass das doch bleiben, so jung bist Du nun auch nicht mehr, Tochter, als dass Du mich abschleckst wie ein Schlüpfling. Und bei Schlüpfling fällt mir ein, dass es an der Zeit ist, mit dem Unterricht fortzufahren. Komm mit mir, Du Störer meines inneren Friedens. Denn ich bin immer noch davon überzeugt, dass meine Tochter etwas Besseres verdient hat als einen verzauberten Menschen. Doch das will ich Dir sagen, wenn Du meine Tochter unglücklich machst, ich schwöre Dir, ich werde Dir jede einzelne Schuppe von Deinem Körper krallen.“
Sowohl Si’Rakk als auch Elidon wussten, dass er es nicht so meinte wie er sagte und er im Grunde seines alten Herzens sich am Glück seiner Tochter erfreute.
„Und wenn Du jetzt nicht Deine Flügeln schneller bewegst, dann werde ich Dir wohl mit meinem Drachenfeuer Dein hübsches Silberhinterteil anwärmen müssen“, fügte er hinzu, als sie sich von einem Felsensims vor ihrer Behausung abstießen.
„Und nein, Du musst die Flügeln ausbreiten, Du Nichtsnutz, Du... -  Und nicht gegen die Tanne dort flie...Autsch! Elidon, geht es Dir gut?“
Das war das letzte, was noch an Si’Rakks Ohren drang, als sie sich abwandte, um ein wenig Ordnung in der Höhle zu schaffen und dann ihren königlichen Pflichten nachzukommen. Ihr Vater würde sich schon gut um Elidon kümmern und abends würde dieser wieder kein Glied mehr rühren können vor Schmerz und Müdigkeit. Sie fragte sich, wie viele Bäume es noch gab, deren Stämme noch nicht von dem Aufprall eines Drachens gezeichnet waren.

Eines Tages überraschte Si’Rakk Elidon mit der Nachricht, dass sie in ihrer Eigenschaft als Königin bei einer Feierlichkeit zu erscheinen und er sie selbstverständlich zu begleiten habe.
„Du wirst sehen, es wird bestimmt schön und Du wirst Deinen Spaß schon haben.“
„Muss das denn wirklich sein? Ich würde es mir lieber hier gemütlich machen und wenn Du schon nicht dableiben kannst, dann mache ich lieber noch ein wenig Flügeltraining.“
Elidon war schon damals als Mensch nur äußerst ungern auf irgendwelchen Feiern. Nicht dass er ungesellig war, doch er war nie ein Partylöwe gewesen. Im Gegenteil, meist war er das Mauerblümchen, das in der Ecke des Raums stand, alleine zum Takt der Musik wippend mit einem Cocktail in seiner Hand. „Let the beat control your body.“
Hier unter Drachen würde es kaum anders sein. Außerdem wusste er, dass etliche Drachen immer noch Vorbehalte gegen ihn hatten.
„Das kommt gar nicht in Frage. Du wirst mich begleiten. Außerdem, ein so hübsches, stolzes Männchen wie Du, das darf sich nicht einfach verkriechen.“ - Hugh! Die große Drachin hatte gesprochen!
Schon in der Zeit, als sie noch in ihrer Falkengestalt in sein Leben getreten war, hatte er schnell herausgefunden, dass sie keinerlei Widerworte duldete und wann es besser war, den Mund zu halten und nachzugeben. Genau dieser Punkt war nun erreicht und er gab nach. Immerhin hatte er einen kleinen Trost: Da er nicht mehr in einem Menschenkörper steckte, brauchte er sich keine Gedanken um den Dresscode zu machen - und Krawattenzwang würde es bestimmt auch keinen geben...

(Fortsetzung folgt)
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