Endlich eine Familie
Und mit dem letzten Satz sprang er auf das Fensterbrett. Mit einer schnellen Bewegung öffnete er das Fenster und ließ sich ohne zu zögern aus dem fünften Stock in die Tiefe fallen.
Sofort waren Jens, Peter, Kevin und Mark am Fenster, wobei sich Mark unbeobachtet von Herrn Mayer und dem Kommissar in Eagle verwandelte und Christofer folgte, der sich sogleich in Ourin verwandelt hatte, einen Bogen geflogen war und nach oben weg flog.
Zu Tode erschrocken stürzte Herr Mayer ebenfalls zum Fenster, konnte aber aus zweiter Reihe so gut wie nichts erkennen. Jens drehte sich mit versteinerter Miene um und sprach Herrn Mayer und Hauptkommissar Zimmerer direkt an. „Ich würde an Ihrer Stelle nicht dort runter sehen. Das ist kein sehr schöner Anblick für Sie.“
Der Kommissar war zu überrascht um sofort zu realisieren, dass es so aussah als hätte sich soeben ein elfjähriger Junge direkt vor seinen Augen zu Tode gestürzt.
Steffi kümmerte sich um Herrn Zimmerer und konnte den Kommissar dazu bewegen, sich den Tatort direkt im Erdgeschoss unterhalb des Zimmers anzusehen. „Kommen Sie bitte mit und vertrauen Sie mir, Herr Hauptkommissar Zimmerer. Ich werde Sie bestimmt nicht an Ihren Pflichten hindern. Aber das, was ich Ihnen zeigen möchte, ist ungeheuer wichtig für Sie und die aktuelle Situation!“
Jens schloss hinter den beiden die Türe, so dass Herr Mayer mit Anka, Peter, Jens und Kevin noch im Zimmer verblieb. Und erst jetzt ließen sie den Heimleiter ans Fenster, damit er sich davon überzeugen konnte, dass er schon wieder verloren hatte.
„Dieser Satansbraten! Wenn ich den in die Finger bekomme!...“
Peter unterbrach den Heimleiter unsanft und forderte nun die Dokumente von Christofer.
„SIE werden Christofer gar nichts mehr tun. Denn SIE werden offensichtlich nicht mehr mit ihm fertig, während wir immer noch wissen, wo er sich gerade aufhält. Einer unserer Freunde lässt Christofer nicht aus den Augen. Anka und ich fordern die sofortige Adoption. Christofer hat uns als Eltern bereits akzeptiert.“
Kleinlaut und eingeschüchtert von Ereignissen, die sich seinem Zugriff entzogen, suchte Herr Mayer die Adoptionspapiere sowie eine Geburtsurkunde aus seiner Tasche. „Wenn Sie mal ganz ehrlich zu sich selber sind, dann sind Sie doch froh, wenn Sie den Jungen endlich los sind. Oder was meinen Sie?“ Jens stand am Fenster und hatte die Arme verschränkt. Unter dem Fenster hörte er einen fassungslosen Kommissar, der eine Leiche vermisste, die es nie gegeben hatte.
Herr Mayer füllte die Papiere aus, die frisch gebackenen Eltern unterschrieben freudig, und jeder bekam den passenden Durchschlag.
Der Heimleiter wollte schon aufstehen und gehen als er von Anka aufgehalten wurde. „Stopp! Da fehlt noch etwas wesentliches, Herr Mayer. Darf ich bitten?“ Fordernd hielt sie ihre Hand hin.
Leise vor sich hin schimpfend kramte Herr Mayer noch einmal in seiner Tasche und gab dann Anka das Chatlog, die es sofort auf Vollständigkeit überprüfte.
Peter stand ernst neben ihr. „Wenn wir herausfinden sollten, dass das Log noch auf dem Rechner gespeichert ist, werden wir alle zusammen wieder kommen!“
Herr Mayer versprach hoch und heilig, dass er die noch vorhandenen Logs von Christofer höchst persönlich löschen würde.
Kommissar Zimmerer war mehr als überrascht, als er mit Steffi unter dem Fenster angekommen war und der vermeintliche Tatort keinerlei Spuren aufwies. „Was ist hier los! Wie kann so was gehen? Wo ist der Junge?! Ich habe ihn doch selber zum Fenster hinaus hüpfen sehen.“ Steffi versuchte den Beamten zu beruhigen. „Das ist richtig, Herr Hauptkommissar Zimmerer. Wenn Sie bitte einen Blick zum Himmel werfen würden? Sehen Sie dort oben die beiden kreisenden … Vögel?“ Ungläubig sah Herr Zimmerer von Steffi zu den Vögeln und wieder zurück. „Das … das ist jetzt aber nicht Ihr Ernst? - Was haben diese Vögel mit dem Jungen zu tun?“
Steffi kam nun doch in leichte Erklärungsnot. „Sehen Sie, unser Freund ist der Adler dort oben. Sehen Sie den?“ „Einen Adler... als Freund? Ja, den kann ich sehen. Aber was das darunter für ein Vogel sein soll, kann ich nicht sagen. Diese Flügelform habe ich noch nie gesehen.“
Steffi lächelte und blickte nach oben. „Das mit der seltenen Flügelform ist Ourin, ein Drache so groß wie eine Taube.“ „Drache? Aber die gibt’s doch …. gar nicht... Moment. Wie hieß der Spruch, den Sie oben im Zimmer sagten? … Für diejenigen, die an Drachen glauben... ging der so?“ „Genau. Für jene, die an Drachen glauben, ist keine Erklärung nötig...“
Hautkommissar Zimmerer starrte noch immer in den Himmel, obwohl die beiden inzwischen hinter dem Dach der Klinik verschwunden waren. „Schön und gut. Aber wo ist denn nun dieser Christofer hin. Ein elfjähriger mutiger Junge, der aus einem Fenster im fünften Stock springt, kann doch nicht einfach verschwunden sein.“
Steffi nickte lächelnd. „Da gebe ich Ihnen Recht. Verschwunden ist er nicht. Manchmal sind die Dinge eben anders als sie scheinen. Sie haben ihn eben noch gesehen... den Drachen am Himmel.“
Der Beamte schluckte hart. „Ich sollte wohl gerade mal mein Weltbild etwas zurecht rücken, wenn ich das so sehe... Ich weiß nur noch nicht, was ich in meinem Bericht schreiben soll... das glaubt mir doch kein Mensch.“
Steffi lächelte. Mit dieser Einstellung könnten sie einen wertvollen Verbündeten gewonnen haben. „Natürlich wäre es schön, wenn Sie mit diesen Informationen sorgsam umgehen könnten. - Wenn Sie noch ein wenig Zeit haben, und ihr neues Weltbild noch ein wenig mehr vertragen kann, dann kommen Sie bitte mit mir mit.“
Zusammen liefen sie durch die Klinik bis vor den großen Saal. Dort warteten schon Jens und Kevin auf sie. Schweigend gingen sie in den Saal und direkt zur Terrasse. Dort sahen sie einen kleinen Drachen, so groß wie eine Taube, der sich im Schnee vergnügte. Über ihm zog ein Adler wachsam seine Bahn.
Steffi hatte sich an Jens geschmiegt, und er hatte seine Arme um sie gelegt, was sie sehr genoss. Herr Zimmerer betrachtete sich den komischen Vogel genauer. Beim näheren hinsehen hatte er so gar keine Ähnlichkeit mit heimischen Vögeln.
'Bin kein komischer Vogel!' hörte er plötzlich eine energische Kinderstimme in seinem Kopf. „Nein, ein Vogel ist er wirklich nicht,“ pflichtete Steffi bei.
„Ich hab mir das gerade nicht eingebildet? Ihr habt die Stimme auch gehört?!“ Hauptkommissar Zimmerer war verwirrt und sortierte gerade seine Gedanken. Das was er heute erlebt hatte, überstieg fast seinen Verstand und würde ihm wirklich kein Mensch glauben. 'Ich glaub's ja selber kaum.'
„Das was sie heute gesehen und erlebt haben, sollte vielleicht besser unter uns bleiben,“ erklärte Jens. „Aber wir halten Sie für vertrauenswürdig und würden den Kontakt gerne auch vertiefen, wenn es für Sie in Ordnung ist. - Und ja, wir können uns untereinander telepathisch verständigen“
Anka und Peter kamen Arm in Arm durch den Saal zu der Gruppe am Fenster zur Terrasse. Beide strahlten über das ganze Gesicht, und Anka hielt stolz ein Schriftstück in die Höhe. „Wir haben gewonnen! Christofer gehört ab heute zu uns!“ „Und er muss sich nie wieder vor den Leuten im Kinderheim fürchten,“ ergänzte Peter.
„Nachdem wir dem Herrn versichert haben, dass es Christofer gut geht und er nur seinetwegen aus dem Fenster geflogen ist, wollte er alles so schnell wie möglich hinter sich bekommen.“
Ourin sah durch die Scheibe eine lachende Anka mit einem Zettel winken. Begeistert winkte er mit einem Flügel zurück und wirbelte dabei noch mehr Schnee auf. In seiner Begeisterung begann er nun, den Schnee mit seinem Feueratem zu schmelzen.
Instinktiv und ohne Nachzudenken hatte der Kommissar bei dem ungewöhnlichen und plötzlichen Feuerschein zu seiner Waffe gegriffen und sie in Anschlag auf das feuerspeiende Flugtier gebracht.
Anka, die ihren Schützling bedroht fühlte, ließ entsetzt das Blatt fallen und rannte durch die Türe auf die Terrasse hinaus um Ourin mit ihrem Körper zu schützen. Sie bemerkte nicht einmal, dass sie dabei mehrfach ins Straucheln geriet und sich ihr Schritt änderte und größer wurde.
Steffi fühlte sich an ihr erstes Mal erinnert, als sie Anka mehrmals straucheln sah, und hielt sich an Jens fest. Dieser drückte sie ebenfalls inniger bei diesem ergreifenden Moment.
Wie Steffi jedoch entsetzt die Waffe des Kommissars zuerst auf Ourin und dann auf Anka gerichtet sah, hielt sie diesen am Arm fest, um seine Aufmerksamkeit zu bekommen und ihn daran zu hindern etwas unüberlegtes zu tun.
Dieser war sich nicht sicher, von wem vor ihm die größere Bedrohung auszugehen schien, von dem Feuerspeier oder dem mehrere Meter großen kupferfarbenen Drachen, in den sich Anka innerhalb eines Wimpernschlages verwandelt hatte. Zudem kam plötzlich im Sturzflug von oben auch noch der Adler hinzu und setzte neben den beiden Drachen zur Landung an.
Peter trat entsetzt von der anderen Seite neben Kommissar Zimmerer und hielt ihn ebenfalls davon ab zu schießen, indem er seinen ausgestreckten Arm nach unten drückte. „Nicht! Bitte nicht! Das ist meine Familie!“
Der Beamte ließ seine Waffe sinken und drehte sich langsam Peter zu. Er brauchte noch einen Moment um das eben Gesehene zu verarbeiten.
Drachen, mystische Wesen aus Legenden und fantastischen Erzählungen. 'Wenn mir noch heute morgen jemand gekommen wäre, und gesagt hätte, dass er Drachen gesehen hat, dann hätte ich ihn vermutlich für verrückt erklärt und eingewiesen. Und jetzt sehe ich selber welche.'
Peter wollte sofort zu seiner geliebten Anka und zu Christofer.
Der Kriminalbeamte sah einen Moment zu und war überrascht, wie besorgt und familiär alle miteinander umgingen. 'Wenn es doch auf dieser Welt mehr fürsorgliche Menschen wie diese... aber halt, sind das überhaupt noch Menschen?'
Jens war noch neben dem Kommissar stehen geblieben und sah seine Zweifel. „Jeder von uns ist irgendwo tief in sich auch noch Mensch, obwohl wir mitunter unsere Gestalt verändern. Wir haben Sie daran teilhaben lassen, weil Sie uns den Eindruck eines gerechten und aufrichtigen Ordnungshüters vermittelt haben, und weil es mehr zwischen Himmel und Erde gibt, als sich die meisten vorstellen können. Wir schenken Ihnen unser Vertrauen, da wir überzeugt davon sind, dass Sie mit diesen neuen Fakten sorgsam umgehen werden.“
Kommissar Zimmerer nickte. Er war noch so überwältigt von den sich überschlagenden Ereignissen, dass er keinen Ton heraus brachte. 'Euer Vertrauen ehrt mich. Ich werde versuchen, euch nicht zu enttäuschen.'
Jens war zu den anderen geeilt und gratulierte Anka zu ihrem Erfolg. Anka war selber noch ganz überwältigt, zumal sie zunächst gar nicht realisierte, dass sie sich verwandelt hatte.
Am liebsten würde sie nie wieder etwas anderes sein wollen. 'Was wenn ich mich das nächste Mal wieder nicht verwandeln kann?' Peter sprach ihr Mut zu: „Du wirst es können, Liebste. Und wenn Du es allein für Christofer tust. Solltest Du Dich morgen noch nicht stark genug dazu fühlen, habe ich auch noch einen breiten Rücken.“
Zwischen den Freunden war nun auch Mark wieder aufgetaucht, dafür war der Adler spurlos verschwunden, stellte Kommissar Zimmerer fest. Zögernd war er näher gekommen.
Er wollte keinesfalls stören. Er wollte nur nicht ganz abseits stehen, dort kam er sich mit einem Mal irgendwie verloren vor. Und wortlos gehen wollte er auch nicht. Er wusste, er hatte so viele Fragen, aber er war außer Stande auch nur eine einzige zu formulieren.
Plötzlich stand Christofer neben ihm und wollte sich bedanken.
„Ich danke Ihnen für das beste Geschenk aller Zeiten. Wir können ja wieder einmal einen Deal zusammen machen, Herr Kommissar.“ „Junger Mann, Du warst ein toller Handelspartner, jederzeit wieder gerne. - Sag mal, warst Du tatsächlich dieser kleine Drache der Feuer spucken kann?“
Christofer lachte den Beamten verschmitzt an. „Ja, aber wir sagen's niemandem. Das bleibt unser Geheimnis,“ zwinkerte er wie ein Großer.
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